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Vom Kriegsgefangenen-Lager zum Völkerrechts-Colloquium: Drei Schlaglichter auf die Biographie Rudolf Bernhardts im Kontext der Institutsgeschichte nach 1945

Die berufliche Laufbahn meines Vaters Rudolf Bernhardt (1925-2021) war in vielfältiger Weise mit dem MPIL verbunden, arbeitete er doch hier zunächst von 1954 bis 1965 als Referent, dann von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1993 als einer der Direktoren und blieb dem Institut auch danach eng verbunden.[1] Dieser Beitrag deutet anhand von drei Lebensausschnitten – der Kriegsgefangenschaft 1945-47, der Zeit der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre sowie der Völkerrechtskolloquien mit Polen ab 1974 – schlaglichtartig an, wie sich einige seiner persönlichen und wissenschaftspolitischen Positionen im zeitgeschichtlichen Kontext herausbildeten und artikulierten. Solche individuellen Werdegänge und Sichtweisen haben, wie bereits für andere Führungspersönlichkeiten am Institut, zum Beispiel Hermann Mosler und Karl Doehring, gezeigt wurde,[2] die Entwicklung des MPIL nicht unwesentlich geprägt. Neben den hier präsentierten drei „Schlaglichtern“, die vorrangig aus den privaten Tagebüchern nachgezeichnet werden, ließen sich natürlich zahlreiche weitere anführen, die in anderen Artikeln dieses Blogs auch gestreift werden.[3] Dass der vorliegende Beitrag aus meiner sehr speziellen Perspektive als Sohn Rudolf Bernhardts und professioneller Zeithistoriker geschrieben ist, wird am Schluss kurz reflektiert.

1. Eindrücke aus der Kriegsgefangenschaft

Die gut zwei Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1945-1947 hat mein Vater als junger Mann mehrfach nur mit viel Glück und äußerst knapp überlebt. Sein 1948 dazu niedergeschriebener detaillierter Erfahrungsbericht, der erstmals 76 Jahre später im April 2024 im Franz-Steiner Verlag veröffentlicht wurde,[4] gewährt drastische Einblicke in seine Erlebnisse in den sowjetischen Arbeitslagern nordöstlich von Moskau. Immerhin waren ihm in der Kriegszeit eine persönliche Verwicklung in Kampfhandlungen und damit die traumatischen Kriegserfahrungen vieler Altersgenossen, insbesondere an der „Ostfront“, erspart geblieben. Als 18-Jähriger am 1. Juli 1943 zur Reichswehr einberufen, hatte er in seiner zweijährigen Soldatenzeit bis Kriegsende eine Fliegerausbildung an mehreren „Fliegerhorsten“ bzw. Flugschulen im „Altreich“, wie zum Beispiel in Oschatz und Werder an der Havel, absolviert. Von dort aus war er auch periodisch zu Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen in Städte wie Nürnberg und Berlin abgeordnet und am 1. Mai 1945 bei Potsdam von sowjetischen Truppen festgenommen worden.[5]

Vier markante Aussagen aus dem genannten Bericht von 1948 reflektieren wichtige Erfahrungen und Schlussfolgerungen des 22-jährigen Rudolf Bernhardt:
Erstens und vor allem schildert der Bericht die extremen Lebensbedingungen in den sowjetischen Arbeitslagern, in denen mein Vater härteste Waldarbeit verrichten und wiederholt lebensgefährliche Gefahrensituationen und Erkrankungen überstehen musste. Zweitens übte er aus der Perspektive eines jungen, einfachen Gefangenen vom untersten Ende der brutalen Lagerhierarchie scharfe Kritik am Regime der als „Brigadeleiter“ fungierenden, vielfach privilegierten deutschen Offiziere, die er verantwortlich machte für zahlreiche willkürliche Gewaltexzesse und vermeidbare Todesfälle von Mitgefangenen. Drittens artikulierte er, in der einfachen Diktion eines 22-Jährigen, in kategorischer Abgrenzung zum NS- und zum sowjetischen Regime eine emphatische Ablehnung von „Militarismus“ und jedwedem „Nationalismus“. Viertens schließlich erörterte er, in kritischer, aber relativ nüchterner Diktion, weitere Seiten des Sowjetregimes, dem er zwar gewisse Erfolge bei der Alphabetisierung und Industrialisierung zugestand, dessen Wirtschaftssystem, massive Propaganda und brutale Unterdrückung der Zivilgesellschaft er aber strikt ablehnte.[6]

Wie wirkten nun diese Erlebnisse und Wertungen des 22-Jährigen in seiner späteren Laufbahn als Völkerrechtler, Direktor am MPIL und Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nach? Auf den ersten Blick – scheinbar gar nicht: In seinen zwei veröffentlichten berufsbiographischen Skizzen widmet er ihnen nur wenige, zurückhaltende Sätze,[7] im Familiengespräch wurden sie kaum thematisiert,[8] eine direkte Einwirkung auf berufliche Richtungsentscheidungen – von der Wahl des Studienfachs, des Promotionsthemas oder der Forschungsschwerpunkte Völkerrecht und Menschenrechte bis zur Tätigkeit als Richter am EGMR – ist nicht dokumentiert, teilweise sogar auszuschließen.[9]
Jedoch formten diese frühen Erlebnisse zweifellos persönliche Grundhaltungen, die in seine Berufstätigkeit als ein Faktor unter mehreren einflossen, so zum Beispiel in kollegiale Beziehungen und wissenschaftspolitische Positionierungen. Zu diesen Grundhaltungen gehörten eine geringe Affinität zum militärischen Habitus und Denken – auch weil ihm der „Krieg als Primärerfahrungsraum“ [10] vieler Altersgenossen erspart geblieben war –, eine entschieden transnationale Orientierung,[11] eine nüchtern-distanzierte Haltung gegenüber der Sowjetunion sowie eine lebensbejahende und humanistische Weltsicht. Einen Beleg für diese These eines unterschwelligen, aber prägenden Nachwirkens der Erfahrungen aus der Kriegsgefangenschaft  findet sich in einer prägnanten Bemerkung seines amerikanischen Kollegen und Freundes Thomas Buergenthal in der Laudatio zum 80. Geburtstag meines Vaters 2005:

„I developed great affection to him, no doubt also influenced by the fact that his years as prisoner of war and mine in a concentration camp have given us a shared appreciation of the joy of being alive and a profound belief in the need to promote laws and institutions capable of contributing to a world in which future generations are spared the suffering our generation and that of our parents had to endure.” [12]

Generationengeschichtliche Konstellationen

In einer erweiterten historischen Sicht auf die ersten Nachkriegsjahre in der Bundesrepublik ist zu erkennen, dass die Grundhaltungen meines Vater sich erfahrungs- und generationengeschichtlich stark mit denen der sogenannten „Flakhelfer“-Generation der Jahrgänge 1926 bis 1930 deckten, die Heinz Bude als Träger- und Aufstiegsgeneration der Bundesrepublik untersucht und entschieden von der nur wenig älteren „Kriegsgeneration“ des Zweiten Weltkriegs abgegrenzt hat.[13] Ohne hier auf Details einzugehen ist festzuhalten, dass die Angehörigen der Flakhelfer-Generation, so auch mein Vater, als Jugendliche der massiven Indoktrination des NS-Systems ausgesetzt gewesen waren und dessen Niederlage auch als Zusammenbruch einer sie prägenden Weltanschauung erlebten. Für die darauf gemünzte, bekannte zeitgenössische Diagnose des Soziologen Helmut Schelsky von der gegenüber politisch-ideologischen Großentwürfen „skeptische(n) Generation“ (1957)[14] enthält der Erfahrungsbericht meines Vaters von 1948 zahlreiche charakteristische Formulierungen.[15] Eine vergleichende generationengeschichtliche  Analyse unter Einschluss der anderen Führungspersönlichkeiten des MPIL, wie für die gesamte Belegschaft, könnte aufschlussreiche Einblicke in personelle Konstellationen und sozialkulturelle Wandlungsprozesse im Institut liefern.

Geburtsjahr und Amtszeiten der Direktoren des MPIL 1954-2002. Es ist ersichtlich, dass alle in dieser Zeit amtierenden Direktoren den Nationalsozialismus bewusst erlebt haben, jedoch war nur einer (Karl Doehring) als Militär in Kriegshandlungen aktiv.

Wenn Bude, wie auch andere, die Rezeption zeitgenössischer belletristischer Literatur als einen der prägenden wie abgrenzenden Indikatoren zwischen den Nachkriegs-Generationen anführt und für die „Flakhelfer-Generation“ Namen wie Günter Grass, Hans-Magnus Enzensberger, Martin Walser oder Ingeborg Bachmann nennt,[16] so bestimmten diese Autoren tatsächlich auch den frühen Lektürekanon meines Vaters. Im Rahmen seines Jurastudiums an der Universität Frankfurt am Main ab dem Wintersemester 1948 hat er neben den Seminaren in seinem Kernfach auch Veranstaltungen anderer Fächer besucht, so zum Beispiel des Philosophen Max Horkheimer sowie zur Philosophie- und Literaturgeschichte. Dazu exzerpierte er auf hunderten von Seiten den klassischen Philosophie- und Literaturkanon, von Platon und Sophokles über Kant und Schiller bis zu Balzac und Tolstoi.[17] Die Stillung eines aufgestauten Lesehungers hat er in den ersten Nachkriegsjahren buchstäblich als zweite Befreiung erlebt, ebenso wie private Fahrten nach West- und Südeuropa. Letztere verankerten und festigten früh, zusammen mit den ersten beruflichen Auslandsreisen 1953 zum „Salzburg Seminar in American Studies“ und 1959 an die Harvard Law School in den USA, seine „transnationale“ Orientierung.[18]

Salzburg Seminar in American Studies 1953, Gruppenfoto (Rudolf Bernhardt dritte Reihe von unten ganz rechts)[19]

2. Die Zeit der „Studentenunruhen“

Bekanntlich trat mein Vater nach seiner Promotion bei Hermann Mosler 1954 in das MPIL ein und arbeitete dort für gut zehn Jahre als Wissenschaftlicher Referent, bis er 1965 auf das Ordinariat „Öffentliches Recht IV“ an der Juristischen Fakultät der Universität Frankfurt berufen wurde.[20] Als relativ junger Professor, der sich auf der „liberal-konservativen“ Seite des politischen Spektrums verortete und just beim Beginn der Studentenrevolte 1967/68 die Würde und Bürde des Dekans der juristischen Fakultät übertragen bekam, fand er sich in der Folgezeit generationell und hochschulpolitisch zwischen allen Stühlen wieder.

Protestaktionen der Studierenden einerseits, wie Sitzblockaden – bei deren Überwinden ihn ein bekanntes zeitgenössisches Foto zeigt – und die Erwartungen konservativer Kollegen sowie Gespräche mit dem Konrektor der Universität andererseits, erzeugten hochschulpolitische und alltagskulturelle Zerreißproben. Sie werden in den Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit deutlich: „Demagogisch aufgehetzte Studentenmengen in der Universität, Belagerungen von Konzil und Senat (…), systematische Störungen von Veranstaltungen und verabredeten Diskussionen, durch radikale, ideologisch und praktisch begabte Minderheiten (…)“. [21] „Als gerade gekürter Dekan hatte ich mich nach allen Seiten zur Wehr zu setzen, auch gegen manche Kollegen“.[22] „Unter den Professoren erzkonservative und auch (ehrlich oder opportunistisch) radikal-progressive Exemplare, die Mitte wird zerschlissen“. [23]

Studentische Sitzblockade an der Universität Frankfurt a.M. 1968 (Rudolf Bernhardt hinten Mitte rechts)[24]

Anhand seiner Auseinandersetzung mit den politisch hoch umstrittenen „Notstandsgesetzen“ lässt sich die vielfach widersprüchliche Entwicklung in diesen Jahren andeuten. Begonnen hatte mein Vater die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema bereits in den frühen 1960er Jahren noch als Referent im MPIL, offensichtlich im Gespräch oder zumindest zeitlich parallel zu Hermann Mosler und Karl Doehring. Alle drei teilten die rechtsvergleichende Sicht auf das Sujet, das mein Vater bereits im Herbst 1963 in einem Vortrag auf einer Tagung der Österreichischen und Deutschen Gesellschaft für Rechtsvergleichung in Wien ansprach.[25] Im Herbst 1965 wählte er es auch als Gegenstand seiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt. Obwohl sich zu dieser Zeit die öffentliche Kontroverse über die geplante Novelle des Grundgesetzes bereits zuspitzte,[26] konnte man, nach seinen Aufzeichnungen, vor dem „Ausbruch der Unruhen“ 1967 „über die geplante ‚Notstandsverfassung‘ (…), auch bei dem sozialistischen Studentenbund, noch ungestört referieren und diskutieren“.[27] In seiner Antrittsvorlesung zur sogenannten Notstandsverfassung, die am 22. Februar 1966 in der FAZ abgedruckt wurde, plädierte Rudolf Bernhardt dezidiert für eine „knappe, griffige Notstandsformel“.

Beitrag Rudolf Bernhardts zur „Notstandsverfassung“ in der FAZ vom 22. Februar 1966

Die kurz zuvor im Sommer 1965 vom Bundestag diskutierte Fassung „in Bausch und Bogen als Anschlag auf die Demokratie abzulehnen“, zeige „Unkenntnis“ oder „abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber den (…) demokratisch gewählten politischen Kräften unseres Landes“. Andererseits kritisierte er scharf die sieben bereits 1965 vom Bundestag verabschiedeten „einfachen Notstandsgesetze“ als „grotesken Perfektionismus“ von „überbordender Regelungswut“ und als teilweise verfassungswidrig. Das Fazit des FAZ-Beitrags lautete: „In Kenntnis des Risikos muss man auf ein Höchstmaß an Sicherheit verzichten, um mehr als ein Mindestmaß an Freiheit zu erhalten“.[28] Es wäre interessant, aus rechtsgeschichtlich kompetenter Sicht – die mir fehlt – die juristischen Positionen und einzelnen Argumente meines Vaters mit denen von Hermann Mosler und Karl Doehring in ihren ausführlichen Statements in der Sitzung des Rechts- und des Innenausschusses des Bundestages am 7. Dezember 1967 abzugleichen.[29] Zugleich ließe sich am Beispiel der „Notstandsgesetze“ exemplarisch die für das Verständnis der Arbeitsweise des Instituts zentrale Frage zum Verhältnis von arbeitsteiliger Wissensproduktion (etwa durch auf einzelne Länder spezialisierte Referenten), Synthese,  Publikation und Transfer der Ergebnisse in den politischen Raum reflektieren, [30] auch im Hinblick auf Fragen von Autorenschaft und „geistigem Eigentum“ an den Forschungsresultaten.

Für viele Leser*innen sicherlich überraschend war es, dass mein Vater mit einem Aufsatz zu den Notstandsgesetzen wider Willen auch zu einem Buch beitrug, das die ZEIT rückblickend als „gefeierte(n) Klassiker der 68er Generation“ apostrophierte, der zugleich „geschmäht [wurde] von denen, die sich damals angegriffen fühlten“.[31] Es handelte sich um den von seinem Frankfurter Fakultätskollegen Rudolf Wiethölter konzipierten Band „Rechtswissenschaft“ in der Reihe „Funkkolleg“ des Fischer Taschenbuch Verlags, der nach seinem Erscheinen 1968 innerhalb von knapp fünf Jahren vier Auflagen mit einer Gesamtzahl von 45.000 gedruckten Exemplaren erreichte.[32] Wiethölter stellte im Vorwort klar, die dem Buch zugrunde liegende Vorlesungsreihe für das „Funkkolleg“ des Hessischen Rundfunks sei „aus Unruhe als Bürgerpflicht“ entstanden, das Ziel sei die „Entzauberung des Rechts“ als „politisches Alibi und Verheißung“, um „mitzuwirken an der Entlarvung eines deutschen Götzendienstes: Dienst für den ‚General Dr. von Staat‘ (Thomas Mann)“.[33]

Funkkolleg Rechtswissenschaft (1968)

Von den insgesamt 20 „Kollegs“ (Rundfunk-Vorträgen) wurden jeweils zwei von Erhard Denninger und meinem Vater übernommen.[34] Wenig überraschend trugen die Beiträge meines Vaters über die „Entwicklung zum demokratischen Rechts- und Sozialstaat“ sowie zum „Notstandsrecht“ nichts zu Wiethölters Mission der „Entzauberung des Rechts“ oder der von der ZEIT diagnostizierten späteren Karriere des „vor allem von linken und liberalen Juristen geliebten“ Buches bei. Hintergrund der besonderen Konstellation war, dass mein Vater ebenso wie Denninger kollegialer Weise für den erkrankten Wiethölter kurzfristig eingesprungen war, ohne seine Beiträge auf Wiethölters Programm auszurichten.[35] Die erstaunliche, kaum bekannte Rolle meines Vaters als Mitautor eines „68er Klassikers“ zeigt, dass zu dieser Zeit die Gräben zwischen den hochschulpolitischen „Lagern“ zuweilen noch fluide waren und durch kollegiale Praktiken punktuell überwunden wurden, so dass spezielle inhaltliche „Melangen“ wie das „Funkkolleg“- Buch entstehen konnten. Es sei aber nachdrücklich festgehalten, dass sich mein Vater im Grundsatz zu den Forderungen und Aktionen der Studentenbewegungen, mit ihnen sympathisierender Kollegen sowie der Umsetzung der Hochschulreform sehr kritisch beziehungsweise ablehnend positionierte.[36]

3. Die Völkerrechtskolloquien der 1970er und 1980er Jahre

Die Zeit der Rückkehr meines Vaters an das MPIL 1970 als Co-Direktor von Hermann Mosler war nicht nur von den anhaltenden Spannungen an den Universitäten geprägt, sondern auch von den politischen Kontroversen um die „neue Ostpolitik“. Zu dieser bestand auch unter den führenden Wissenschaftlern am Institut eine breite Meinungsvielfalt. Hier hatte sich der Institutsmitarbeiter Fritz Münch, der seit 1955 Leiter der 1960 aufgelösten Außenstelle des MPIL in Berlin gewesen war, frühzeitig besonders exponiert. Schon 1965 hatte er ein juristisches Gutachten mit verfasst, in dem er die Rechtsgültigkeit des Münchener Abkommens von 1938 zur Einverleibung des Sudentenlandes in das nationalsozialistische Deutsche Reich feststellte.[37] In der Folgezeit hatte sich Münch nicht nur in daraus hervorgegangene gerichtliche und publizistische Kontroversen verwickelt, sondern wechselte im Sommer 1972 von der CDU zur NPD, für die er im November 1972 auch bei den Bundestagswahlen kandidierte.[38] Im Institut vertrat er neben Karl Doehring, Hartmut Schiedermair, Helmut Steigenberger und Hermann Mosler eine kritische Sicht auf die Ostverträge,[39] während Jochen Frowein und mein Vater sie eher unterstützen. An einer ersten, im Januar 1972 von der Theodor-Heuß-Akademie in Gummersbach organisierten Konferenz deutscher und polnischer Völkerrechtler nahmen von Seiten des MPIL Fritz Münch und mein Vater teil,[40] der dazu in seinem Tagebuch notierte:

„Es war sehr aufschlussreich und verlief im großen und ganzen ganz angenehm. Natürlich lässt sich die Geschichte der jüngeren Vergangenheit nicht vergessen, sie wirkt in die Gegenwart hinein, aber es sind vielleicht doch Chancen für mehr Verstehen und eine begrenzte Kooperation vorhanden.“[41]

Deutsch-polnisches Völkerrechtskolloquium in Gummersbach 1972. Rudolf Bernhardt fünfter von links.[42]

Die in der Folgezeit von meinem Vater federführend mit organisierte Serie deutsch-polnischer Völkerrechts-Kolloquien, deren erstes 1974 bei Warschau und zweites 1976 in Heidelberg stattfand, flankierten mit der Klärung von Rechtsfragen faktisch die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung und enthielten somit natürlich eine allgemein- und wissenschaftspolitische Komponente. So wurde der Konferenz 1974 in Warschau explizit „auch eine politische Bedeutung beigemessen“ (…). „Bei einem Empfang des deutschen Botschafters in Warschau aus Anlass des Treffens war eine größere Anzahl polnischer Gäste u.a. aus verschiedenen Ministerien anzutreffen“. [43] Ausweislich der Tagungsprogramme nahm die rechtliche Seite wirtschaftlicher Kooperation eine herausgehobene Stellung ein, aber auch kontroverse Themen wurden diskutiert, zum Beispiel auf der Tagung 1974 Fragen des polnischen Staatsangehörigkeitsrechts.[44]

Empfang beim deutsch-polnischen völkerrechtlichen Kolloquium 1984 in München. Rudolf Bernhardt zweiter von rechts.[45]

Die zwischen 1982 und 1990 durchgeführten bilateralen Konferenzen mit sowjetischen Völkerrechtlern, die ebenfalls von meinem Vater mit angestoßen wurden, waren politisch und organisatorisch noch komplizierter und erforderten eine manchmal mühsame Abstimmung mit Stellen im Auswärtigen Amt und der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft.[46]
Die Initiative für die Kolloquien und die privaten Aufzeichnungen machen unter anderem deutlich, dass mein Vater einerseits keine Berührungsängste gegenüber Kollegen aus sozialistischen Staaten hegte, noch etwa aus seiner Kriegsgefangenschaft herrührende Ressentiments gegenüber der Sowjetunion. Vielmehr förderte er den fachlichen Austausch, der mit polnischen Kollegen zu vertrauensvoller Zusammenarbeit gedieh, sich hingegen mit den Gesprächspartnern aus der Sowjetunion beziehungsweise Russland wegen grundlegender fachlich-rechtspolitischer Differenzen letztlich in Grenzen hielt.

Fazit

Insgesamt belegen die hier beleuchteten drei „Schlaglichter“ die auch von Kollegen erinnerte eher zurückhaltende, abwägende und dialogorientierte Haltung meines Vaters auch über grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten hinweg.[47] Und offensichtlich war die gemeinsame Erforschung des Völkerrechts am Institut inhaltlich wie fachkulturell tragfähig genug, die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten und konträren Positionen in den hier betrachteten bewegten Zeiten der 1950er bis 1980er Jahre zusammenzuhalten.
Die Fragestellungen und Ergebnisse dieses Beitrags sind primär aus meiner Perspektive als Geschichtswissenschaftler formuliert und fußen wesentlich auf schriftlichen Dokumenten, kaum jedoch auf direkten mündlichen Auskünften zu Lebzeiten meines Vaters. Die andere, hier nicht verfolgte Perspektive meiner privaten Erinnerungen als Sohn Rudolf Bernhardts, aber auch die von Partner*innen und Kindern anderer Institutsmitarbeiter – immerhin eine Gruppe von mehreren hundert bis tausend Personen über inzwischen viele Jahrzehnte hinweg – würden andere, ebenfalls interessante Facetten der Institutsgeschichte eröffnen. Das Erleben und Erinnern von Arbeitsbelastungen, Ortswechseln, am Familientisch kurz angesprochenen Namen, Institutionen, Sachverhalten und Konflikten ließen sich zu einem ganz eigenen Wörterbuch von Institutsthemen und Erfahrungen zusammenführen.

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Der vorliegende Beitrag schreibt meine Vorträge zum gleichen Thema auf der Akademischen Gedenkfeier für meinen Vater am 23. Oktober 2022 und auf dem Seminar Kriegsfolgenbewältigung und Westintegration der Seminarreihe 100 Jahre öffentliches Recht am 22. Februar 2024 (beide am MPIL) sowie den in Fußnote 6 genannten Aufsatz fort.

[1] Vgl. die autobiographische Skizze Rudolf Bernhardt, Staatsrecht im internationalen Verbund, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart58 (2010), 337-351; jetzt auch: Eckart Klein, Rudolf Bernhardt (1925-2021), in: Michael Kilian/Heinrich Amadeus Wolff/Peter Häberle (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Nachtragsband Deutschland-Österreich-Schweiz, Berlin: De Gruyter 2024, 35-57.

[2] Vgl. Felix Lange, Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzepte. Herman Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945, Berlin: Springer 2017; Karl Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union – Erinnerungen, Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag 2008.

[3] Vgl. z.B. den Beitrag von Frank Schorkopf, Grundrechtsschutz in den Gemeinschaften, MPIL100.de.

[4] Rudolf Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1945-1947, herausgegeben und mit einem Nachwort von Christoph Bernhardt, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024.

[5] Notizen im Tagebuch, Sammlung Rudolf Bernhardt, Familienarchiv Bernhardt.

[6] Vgl. Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 103-106; Christoph Bernhardt, Die Tagebuchaufzeichnungen Rudolf Bernhardts aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1945-1947, in: Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 127-145, 136.

[7] Christoph Bernhardt, Die Tagebuchaufzeichnungen Rudolf Bernhardts aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1945-1947, in: Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 127-145, 142.

[8] Eine solche „Nicht-Thematisierung“ oder jahrzehntelang verzögerte Verarbeitung ist nach den Erkenntnissen der Forschung durchaus typisch für den Umgang vieler Kriegsgefangener mit Ihren Erlebnissen, vgl. Christoph Bernhardt, Die Tagebuchaufzeichnungen Rudolf Bernhardts aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1945-1947, in: Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 127-145, 138-139.

[9] Christoph Bernhardt, Die Tagebuchaufzeichnungen Rudolf Bernhardts aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1945-1947, in: Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 127-145, 138-139.

[10] So die Formulierung von Rebenich über die persönliche Verarbeitung der Kriegserlebnisse der prominenten Historiker und Altersgenossen meines Vaters Karl Christ und Reinhard Koselleck: Stefan Rebenich, Karl Christs Lebensmosaik. Die Schreie der Niedergewalzten gellten noch lange, FAZ 19.12.2023.

[11] So vertrat er auch nachdrücklich die Überzeugung, „dass die Völkerrechtswissenschaft keine nationale, sondern eine internationale Wissenschaft sei“: Rudolf Bernhardt/Karin Oellers-Frahm, Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Geschichte und Entwicklung von 1949 bis 2013, Beiträge zum öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 270, Berlin: Springer 2018, 148.

[12] Thomas Buergenthal, Laudatio: Rudolf Bernhardt – Leben und Werk, ZaöRV 65 (2005), 519–524, 519.

[13] Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Falkhelfer-Generation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

[14] Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln: Eugen Diederichs Verlag 1957; vgl. auch Bude (Fn. 13), 43.

[15] Vgl. Bernhardt, Tagebuchaufzeichnungen (Fn. 4), 102-103.

[16] Bude (Fn. 13), 33; vgl. auch Rebenich (Fn. 10).

[17] Notizheft Rudolf Bernhardt: Exzerpte aus dem Wintersemester 1948/49, Familienarchiv Bernhardt.

[18] Vgl. Bernhardt, Staatsrecht (Fn. 1), 339-340.

[19] Foto: Familienarchiv Bernhardt.

[20] Bernhardt, Staatsrecht (Fn. 1), 339-340.

[21] Rudolf Bernhardt, Notiz vom 22.1.1968, Tagebuch II, Familienarchiv Bernhardt.

[22] Bernhardt, Staatsrecht (Fn. 1), 339.

[23] Rudolf Bernhardt, Notiz vom 14.8.1969, Tagebuch III, Familienarchiv Bernhardt; vgl. als Rückblick zur Situation an der Fakultät aus der Sicht des 1967 als Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte berufenen Bernhard Diestelkamp, Schmerzhafter Umbruch. 1968 im Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität, Forschung Frankfurt.  Das Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität 1 (2018), 27-30.

[24] Die Bildrechte haben sich trotz intensiver Recherche u.a. bei der Deutschen Universitätszeitung und dem Foto-Archiv der Süddeutschen Zeitung nicht klären lassen. Für weitere Hinweise wären wir dankbar.

[25] Rudolf Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 431-452, 444.

[26] Vgl. Alexandra Kemmerer, Praktiker des Wortes. Fritz Bauer und die Kritische Justiz, in: Katharina Rauschenberger/Sybille Steinbacher (Hrsg.), Fritz Bauer und ‘Achtundsechzig’. Positionen zu den Umbrüchen in Justiz, Politik und Gesellschaft, Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Bd. 3, Göttingen: Wallstein 2020, 121-142,123ff.

[27] Bernhardt, Staatsrecht (Fn. 1), 339.

[28] Rudolf Bernhardt, Notstand und Verfassung. Wer soll in welcher Situation welche Maßnahmen ergreifen dürfen?, FAZ 22.2.1966, 9-10.

[29] Vgl. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Protokoll 4: öffentliche Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses am 7. Dezember 1967; ich danke Tim Wihl, dass er mir diese Quellen zugänglich gemacht hat.

[30] Vgl. dazu die auf einen anderen Fall bezogene Anmerkung von Frank Schorkopf, Grundrechtsschutz in den Gemeinschaften, MPIL100.de, sowie die Sichtweise meines Vaters auf diesen Sachverhalt in: Rudolf Bernhardt, Gruppenarbeit und Einzelleistung in Völkerrecht und Rechtsvergleichung, Mitteilungen der Max-Planck-Gesellschaft (1970), 301-313.

[31] Wiethölter wieder zu kaufen: Kritik des Rechts, ZEIT 18/1986, 25.4.1986, zitiert nach ZEIT Online.

[32] Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, unter Mitarbeit von Rudolf Bernhardt und Erhard Denninger, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1968.

[33] Wiethölter (Fn. 32), 9-10.

[34] Vgl. die Ausführungen zu Wiethölter, Denninger und dem Funkkolleg-Band bei Diestelkamp (Fn. 23), 27-28.

[35]  Diestelkamp (Fn. 23), 27-28.

[36] Vgl. als Zwischenbilanz mit dem Fokus auf der Reform der Universitäten: Rudolf Bernhardt: Reform oder Anarchie? Zur Situation an den deutschen Universitäten, Zeitwende. Kultur, Theologie, Politik 43 (1972), 215-227.

[37] Vgl. Otto Köhler, Schweine und Esel, Der Spiegel 21 (1961).

[38] So jedenfalls der Eintrag in der Wikipedia-Enzyklopädie zu Münch, letzter Aufruf 23.5.2024; der Nachruf von Karl Doehring in der ZaöRV spricht diese Sachverhalte nicht an:  Karl Doehring, Fritz Münch 1906-1995, ZaöRV 55 (1995), 949-950.

[39] So, nach Lange, Armin von Bogdandy/Philipp Glahé, Alles ganz einfach? Zwei verlorene Weltkriege als roter Faden der Institutsgeschichte, MPIL100.de.

[40] Vgl.: Liste der Teilnehmer von deutscher Seite in Kolloquium polnischer und deutscher Völkerrechtler, 14.-16.1.1972, Ordner „Polen“, Nachlass Rudolf Bernhardt, Max-Planck-Archiv Berlin, III. Abteilung, ZA 221.

[41] Rudolf Bernhardt, Notiz vom 18.1.1972, Tagebuch III, Familienarchiv Bernhardt.

[42] Foto: Familienarchiv Bernhardt. Zur Tagung selbst: Deutsch-polnisches Völkerrechtskolloquium 1972. Referate deutscher und polnischer Völkerrechtler auf der Tagung vom 14. bis 16. Januar 1972 in der Theodor-Heuss-Akademie, Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1972.

[43] Vgl.: Rudolf Bernhardt, Bericht über den Verlauf des Treffens polnischer und deutscher Juristen vom 16.-19. September in Radziejowice bei Warschau, 9.10.1974, Ordner „Polen“, Nachlass Rudolf Bernhardt, Max-Planck-Archiv Berlin, III. Abteilung, ZA 221, 3-4.

[44] Bernhardt, Bericht (Fn. 43), 1-2.

[45] Foto: Familienarchiv Bernhardt. Außerdem haben sich auf dem Foto, dank Jerzy Kranz, identifizieren lassen: links neben Bernhardt: Janusz Łętowski, Marian Rybicki (fünfter von rechts), Miroslaw Wyrzykowski (dritter von links).

[46] Vgl. die Schriftwechsel im Ordner „Sowjetunion“, Nachlass Rudolf Bernhardt, Max-Planck-Archiv Berlin, III. Abteilung, ZA 221.z.B

[47] Vgl. etwa die Kurznotiz „Rudolf Bernhardt 90“, FAZ 29.4.2015.

„Aus dem sozialistischen Paradies verstoßen“. Das Institut und die Sowjetunion

"Cast out of Socialist Paradise". The Institute and the Soviet Union

Deutsch

Das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und die Sowjetunion waren praktisch Zeitgenossen. Die Sowjetunion wurde am 30. Dezember 1922 gegründet, das Kaiser‑Wilhelm‑Institut (KWI) nur zwei Jahre später. Da Deutschland zwischen Westeuropa und Russland liegt, war man in Berlin immer auch interessiert daran, wie im Osten Völkerrecht praktiziert und gedacht wurde. Das russische Kaiserreich und später die Sowjetunion haben das weltpolitische Schicksal Deutschlands mehrmals mitbestimmt. Das akademische Interesse am sowjetischen Völkerrecht war somit ernsthaft und keineswegs nur theoretisch: die praktische Relevanz des Forschungsgegenstandes war evident.

In den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und Entwicklungsphasen des Instituts haben die sowjetische Praxis und Theorie des Völkerrechts die Berliner und später Heidelberger Völkerrechtler oft beschäftigt. In den 1920er-1940er Jahren gehörten zum Institut gleich mehrere Wissenschaftler aus dem ehemaligen Zarenreich: Alexander Makarov (1888-1973), Georg von Gretschaninow (1892-1973), aber auch der Sohn des berühmten russischen Völkerrechtlers Friedrich Martens, Nikolai von Martens (1880-1947). Makarov beispielsweise hat mehrmals in der Haager Akademie Vorlesungen gehalten – vor allem zum internationalen Privatrecht, auch zu dem der UdSSR, die viele alte („bürgerliche“) Rechtsgrundsätze, vor allem bezüglich des Privateigentums, abgelehnt und abgeschafft hatte. Auch in den deutschen Völkerrechtszeitschriften kommentierte Makarov mehrmals die Völkerrechtsentwicklungen in und bezüglich der Sowjetunion – unter anderem, als die Sowjetunion die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im August 1940 völkerrechtswidrig eingliederte. Die Geheimprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 waren damals noch nicht öffentlich bekannt.

Alexander N. Makarov 1985[1]

In den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich ein Sondergebiet der Rechtswissenschaft in Deutschland – das Ostrecht.  Dieses Forschungsgebiet wurde vom KWI in Berlin kaum als besonders ausgewiesener Forschungsschwerpunkt bearbeitet, hier war das Osteuropa-Institut in Breslau (heute Wroclaw in Polen) führend im deutschsprachigen Raum. Es waren auch meistens Juristen, die im ehemaligen Zarenreich geboren waren, die in den deutschen Forschungsinstituten im Ostrecht führend waren. Zum Beispiel kamen sowohl Axel Freytagh‑Loringhoven (der Leiter des Breslauer Instituts) als auch Boris Meissner (in der Nachkriegszeit Leiter des Kölner Instituts für Ostrecht) aus Estland, dem kleinen Nachfolgestaat des Zarenimperiums an der Ostsee. Meistens hatten diese Professoren wenig Illusionen über das Wesen und die juristische Praxis der Sowjetunion, aber sorgfältig erforscht wurde das juristische Geschehen dennoch. Das KWI hat aber auch bis 1933 mit Jacob Robinson (1889-1977), einem jüdischen Rechtswissenschaftler aus Litauen, der durch seine Forschung des Minderheitenproblems bekannt wurde, zusammengearbeitet.

‘Ostrechtsforschung‘ am MPIL: Theodor Schweisfurth und die sowjetmarxistische Theorie vom Völkerrecht ‚neuen Typs‘

Theodor Schweisfurth in seinem Büro, 1985 [2]

Eines der besten deutschsprachigen wissenschaftlichen Werke zur Theorie des Völkerrechts in der Sowjetunion entstand jedoch am Heidelberger MPIL. Im Jahre 1979 erschien in der Schwarzen Reihe Theodor Schweisfurths Monografie Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht ’neuen Typs’.[3] Das Manuskript wurde als Habilitationsschrift an der Universität Köln verteidigt und vom bereits erwähnten Boris Meissner akademisch betreut. Schweisfurth war aber auch von 1973 bis 1993 am Heidelberger MPIL tätig. Die Hauptfrage, die er in seinem Buch stellt, ist, ob die sowjetische Doktrin des besonderen sozialistischen Völkerrechts ernst zu nehmen sei und welche Bedeutung sie habe. Schweisfurth hatte hierzu in Moskau in sowjetischen wissenschaftlichen Bibliotheken arbeiten können und war insofern fachlich sehr gut vorbereitet. Schweisfurth zeigt in seinem Buch überzeugend, wie die sowjetische Völkerrechtsdoktrin im Grunde immer die Bedürfnisse der sowjetischen Außenpolitik gestützt hat. Als sich die territorialen und machtpolitischen Bedürfnisse Moskaus mit der Zeit änderten, habe meistens auch die völkerrechtliche Doktrin reagiert und sich dementsprechend geändert. Schweisfurth ist sehr gut gelungen, das Wesen der Theorie des ’sozialistischen Völkerrechts’ mit der Hegemoniebildung der Sowjetunion in Ost- und Mitteleuropa zu verknüpfen. Der realpolitische Kern des ’sozialistischen Völkerrechts’ bestand darin, dass die völkerrechtliche Theorie der Sowjetunion es ermöglichte, deren militärische Interventionen in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968) irgendwie zu rechtfertigen.  Für die sozialistischen Staaten galt ein besonderes Völkerrecht – das sozialistische Völkerrecht – das (aus sowjetischer Sicht) nicht nur Vorrang hatte gegenüber den Normen des universellen Völkerrechts, sondern auch Pflichten beinhaltete. Insbesondere galt die gemeinsame Verpflichtung, zu vermeiden, dass ein sozialistischer Staat in den Kapitalismus ‚zurückfallen‘ könnte. Mit den Normen des universellen Völkerrechts (UN-Charta) waren diese sowjetische Praxis und die damit verbundenen Hegemonieansprüche aber kaum vereinbar, was auch die Konkurrenten der UdSSR, damals sehr deutlich die Volksrepublik China, immer betont haben.

Deutsch-sowjetische Forschungskooperation: die Völkerrechtskolloquien der 1980er Jahre

Ein besonderes Kapitel in der Geschichte des MPIL sind die sowjetisch-deutschen völkerrechtlichen Kolloquien. Die erste dieser Veranstaltungen fand vom 5. bis 10. Juli 1982 in Heidelberg statt; danach wurden sie etwa alle zwei Jahre abwechselnd in der UdSSR (meistens in Moskau) und in Deutschland abgehalten. Mein späterer Doktorvater an der Humboldt‑Universität zu Berlin, damals noch Professor in Bonn, Christian Tomuschat, konnte am ersten Kolloquium nicht teilnehmen. Er drückte in einem persönlichen Brief gegenüber dem Institutsdirektor Rudolf Bernhardt die Hoffnung aus, dass beim Kolloquium ein erfreuliches Arbeitsklima geherrscht habe:

„Auch Sowjetmenschen sind ja letzten Endes von innerer Freude durchdrungen, wenn sie für eine kleine Weile aus dem sozialistischen Paradies verstoßen werden und die Erniedrigung des Menschen im kapitalistischen System auf sich nehmen müssen.“[4]

Das zweite gemeinsame Völkerrechtskolloquium fand schon vom 16. bis 22. Oktober 1984 in Moskau und Leningrad (heute: Sankt Petersburg) statt. Es waren nicht nur führende sowjetrussische Völkerrechtler wie Grigori Tunkin dabei, sondern auch Völkerrechtler, die symbolisch die sonstigen Sowjetrepubliken vertreten sollten – Levan Aleksidze (Georgien), Igor Lukashuk (Ukraine) und Rein Müllerson (Estland). Wilhelm Karl Geck, ein deutscher Teilnehmer schrieb nach dem Kolloquium dem MPIL-Direktor Rudolf Bernhardt in einem persönlichen Brief vom 26. September 1984 anerkennend:

 „Für Sie war die Sache ja auch deshalb besonders anstrengend, weil Sie auf die verschiedenen Reden der sowjetischen Herren reagieren mussten, was bei den obwaltenden Umständen nicht ganz einfach war. Auch im Rückblick glaube ich, dass sich die deutsche Seite gut gehalten hat: Ohne dezidiertes Eingehen auf Details bei sowjetischen Angriffen kam der grundsätzlich andere Standpunkt in wesentlichen Facetten zum Ausdruck.“

Wenn man die sowjetischen Jahrbücher für Völkerrecht der frühen 1980er Jahre (Herausgeber: Grigori Tunkin) durchblättert, sieht man, dass der Kalte Krieg in vollem Gange und die ideologische Gegnerschaft, auch auf dem Gebiet der Völkerrechtstheorie, erbittert war. In seinem 2012 publizierten Tagebuch zählt Tunkin auf, wer von den deutschen Völkerrechtlern dabei war als er das MPIL in Heidelberg besuchte und dort eine Vorlesung hielt; insbesondere erwähnt er auch seine „reaktionären“ Gegner – vor allem Boris Meissner.[5]

Das dritte Kolloquium fand vom 4. bis 8. Mai 1987 in Kiel statt. Bei den ersten beiden Kolloquien war es um diverse Themen des Völkerrechts gegangen, aber jetzt war es wohl der Einfluss des späteren MPIL-Direktors Rüdiger Wolfrum, der dafür sorgte, dass man sich für ein genauer umrissenes Generalthema entschied: Völkerrecht und Landesrecht. Aus dem Kolloquium ist auch ein Sammelband entstanden.[6]

Man kann sich fragen, was die DDR-Völkerrechtler(innen) von den deutsch‑sowjetischen Kolloquien gedacht haben mögen und ob sie so etwas wie eine gewisse politisch‑wissenschaftliche Eifersucht empfunden haben. Führende DDR-Völkerrechtler, wie zum Beispiel Bernhard Graefrath und Peter Alfons Steiniger, hatten wohl keinen Grund, in einer möglichen Annäherung der sowjetischen und westlichen Positionen etwas eindeutig Positives für die DDR zu sehen. Sicherlich hat auch nicht jeder Völkerrechtler in der Sowjetunion mit Freude auf die Kolloquien geblickt – so erschien beispielsweise 1986 in Moskau das kritische Buch des sowjetischen Völkerrechtlers Vladimir Pustogarov mit dem Titel Der westdeutsche Revanchismus und das Völkerrecht.[7]

Die deutsch-sowjetischen Völkerrechtskolloquien gaben den deutschen Teilnehmern die Gelegenheit, von der ersten Reihe aus mitzusehen, wie sich die sowjetische Gesellschaft im Rahmen der Perestroika veränderte. Manche Teilnehmer (Rainer Hofmann)[8] erinnern, wie sich die Machtdynamik und Kraftverhältnisse innerhalb der sowjetischen Delegationen mit der Zeit wandelten und dass die jüngeren sowjetischen Völkerrechtler später den älteren manchmal auch widersprachen, was zuvor wohl unerhört gewesen wäre, zumindest vor den westlichen Kollegen.

Vom 29. Mai bis 4. Juni 1989 traf man sich für ein Kolloquium abermals in Moskau– wobei die Deutschen im „Hotel Ukraina“ unterkamen und ihr Mittagessen im „Restaurant Praha“ einnahmen (Moskau war noch immer die Hauptstadt eines Imperiums!). Knapp ein Jahr später kam die Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990.

×

Kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion traf man sich ein letztes Mal in Heidelberg. Vom 17. Bis 18. Oktober 1991 setzte man sich mit dem Thema Föderalismus-Verfassungsgerichtsbarkeit auseinander. In ihrer hochinteressanten Monografie Die Konzepte ’staatliche Einheit’ und ’einheitliche Macht’ in der russischen Theorie von Staat und Recht zeigt Caroline von Gall, dass manche russische juristische Autoren den Deutschen später vorwarfen, die Ideologie des Föderalismus, die damals propagiert wurde, habe den machtpolitischen Interessen Russlands geschadet[9]. Mit dem Scheitern eines echten Föderalismus war aber auch die Entscheidung getroffen, dass die russländische Föderation auch nach der Sowjetunion weiterhin ein Quasi-Imperium bleiben sollte, mit allem Negativen, was daraus resultiert, sowohl für die Nachbarstaaten als auch für politisch andersdenkende Russen.

Das Interesse an Russland und dem dortigen Völkerrecht lebt auch heute fort am MPIL – vor allem in der wissenschaftlichen Arbeit von Matthias Hartwig[10], der inzwischen in den Ruhestand eingetreten ist, aber weiter am Institut forscht. Auch jüngere Völkerrechtler am MPIL haben zu diesem Thema interessante Forschung beigetragen.[11] Im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten scheint aber die Erforschung der völkerrechtlichen Theorie und Praxis im Osten heutzutage keine strategische Priorität zu sein – was vielleicht, wenn man unter anderem den jetzigen Krieg Russlands gegen Ukraine betrachtet, ein Versäumnis sein könnte.

Das MPIL hat die Sowjetunion überlebt. Ob es aber die besseren völkerrechtlichen Argumente der Deutschen waren, die am Ende auch die sowjetischen Völkerrechtler überzeugten, oder die besseren Konsumgüter im Westen (oder im Kapitalismus), darüber kann man streiten.

***

Der Autor dankt Philipp Glahé und Alexandra Kemmerer für den Zugang zu den Archiven im MPIL, betreffend die Planung und Durchführung der sowjetisch-deutschen Kolloquien.

[1] Foto: MPIL.

[2] Foto: MPIL.

[3] Theodor Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht ‚neuen Typs‘, Berlin: Springer 1979.

[4] Schreiben von Christian Tomuschat an Rudolf Bernhardt, datiert 12. Juli 1982, Ordner “Deutsch-Sowjetisches Kolloquium”, MPIL Archiv.

[5] William Elliott Butler (Hrsg.) The Tunkin Lectures: The Diary and Collected Lectures of G. I. Tunkin at the Hague Academy of International Law, Den Haag: Eleven International Publishing 2012.

[6] J. Enno Harders/Grigory I. Tunkin/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International Law and Municipal Law. Proceedings of the German-Soviet Colloqui on International Law at the Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, 4 to 8 May 1987, Berlin: Duncker und Humblot 1988.

[7] Vladimir V. Pustogarov, Zapadno-germanskii revanshizm i mezhdunarodnoe pravo, Moskau: Nauka, 1986.

[8] Persönliches Gespräch bei der Jahrestagung von American Society of International Law, am 6. April 2024.

[9] Caroline von Gall, Die Konzepte ’staatliche Einheit’ und ’einheitliche Macht’ in der russischen Theorie von Staat und Recht. Der Einfluss des Gemeinschaftsideals auf die russische Verfassungsentwicklung, Berlin: Duncker und Humblot 2010.

[10] Siehe z.B.: Matthias Hartwig, Vom Dialog zum Disput? Verfassungsrecht vs Europäische Menschenrechtskonvention. – Der Fall der Russländischen Föderation, Europäische Grundrechtezeitschrift 44 (2017), 1-23.

[11] Siehe z.B.: Christian Marxsen, The Crimea Crisis. An International Law Perspective, ZaÖRV 74 (2014), 377-391.

English

The Institute for Comparative Public Law and International Law and the Soviet Union were practically contemporaries. The Soviet Union was founded on 30 December 1922, the Kaiser Wilhelm Institute (KWI) only two years later. As Germany is located between Western Europe and Russia, in Berlin, one was always interested in how international law was practiced and thought about in the East. After all, the Russian Empire and later the Soviet Union helped determine Germany’s global political fate on several occasions. Academic interest in Soviet international law was therefore serious and by no means merely theoretical: the practical relevance of the subject was evident.

In the various fields of activity and phases of development of the Institute, Soviet practice and theory of international law often occupied the international law scholars in Berlin and later Heidelberg. In the 1920s-1940s, the Institute housed several academics from the former Tsarist Empire: Alexander Makarov (1888‑1973), Georg von Gretschaninow (1892‑1973), but also the son of the famous Russian international law expert Friedrich Martens, Nikolai von Martens (1880‑1947). Makarov, for example, gave several lectures at the Hague Academy – above all on private international law, including that of the USSR, which had rejected and abolished many old (“bourgeois”) legal principles, especially with regard to private property. Makarov also commented several times in German international law journals on developments in international law in and concerning the Soviet Union – including when the Soviet Union annexed the three Baltic states of Estonia, Latvia, and Lithuania in August 1940 in violation of international law. The secret protocols of the Hitler-Stalin Pact of 23 August 1939 were not yet known to the public at the time.

Alexander N. Makarov 1985[1]

In the 1920s and 1930s, a novel field of legal research developed in Germany – ‘East European Law’ (Ostrecht). The Kaiser Wilhelm Institute in Berlin hardly focused on this field as a special research area. Here, the Osteuropa-Institut in Breslau (now Wroclaw in Poland) was the leading‑edge in the German‑speaking world. It was also mostly lawyers who were born in the former Tsarist Empire who premiered in the German research institutes in East European law. For example, both Axel Freytagh‑Loringhoven (director of the Breslau Institute) and Boris Meissner (director of the Cologne Institute for East European Law in the post-war period) came from Estonia, the small successor state to the Tsarist Empire on the Baltic Sea. For the most part, these professors had few illusions about the nature and legal practice of the Soviet Union, but the legal developments were nevertheless researched carefully. Until 1933, the KWI also collaborated with Jacob Robinson (1889-1977), a Jewish legal scholar from Lithuania who became famous for his research into minority issues.

‘East European Law Research’ at the MPIL: Theodor Schweisfurth and the Soviet-Marxist Theory of a ‘New Type’ of International Law

Theodor Schweisfurth in his office, 1985[2]

However, one of the best German-language academic works on the theory of international law in the Soviet Union was written at the Heidelberg MPIL. In 1979, Theodor Schweisfurth’s monograph Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht ’neuen Typs’ („Socialist International Law? Description – Analysis – Evaluation of the Soviet‑Marxist Theory of ‘New Type’ International Law”)[3] was published. The manuscript was defended as a habilitation thesis at the University of Cologne and academically supervised by the aforementioned Boris Meissner. Schweisfurth worked at the Heidelberg MPIL from 1973 to 1993. The main question that he poses in his book is whether the Soviet doctrine of a novel socialist international law should be taken seriously and what significance it has. Schweisfurth had been able to work on this in Soviet academic libraries in Moscow and was therefore very well informed in this respect. In his book, Schweisfurth convincingly shows how the Soviet doctrine of international law has essentially always supported the needs of Soviet foreign policy. When Moscow’s territorial and power-political needs changed over time, the doctrine of international law usually reacted and changed accordingly. Schweisfurth succeeded in linking the essence of the theory of ‘socialist international law’ with the formation of Soviet hegemony in Eastern and Central Europe. In terms of Realpolitik, ‘socialist international law’ allowed the Soviet Union to somehow justify its military interventions in Hungary (1956) and Czechoslovakia (1968).  According to Soviet doctrine, the socialist states were subject to a novel international law – socialist international law – which (from the Soviet perspective) not only took precedence over the norms of universal international law but also contained obligations: in particular, the common obligation to prevent a socialist state from ‘falling back’ into capitalism. However, this Soviet practice and the associated claims to hegemony were hardly compatible with the norms of universal international law (UN Charter), which the USSR’s competitors – very noticeably at that time, the People’s Republic of China – continually emphasised.

German-Soviet Research Co-operation: the International Law Colloquia of the 1980s

A significant chapter in the history of the MPIL are the Soviet-German Colloquia on International Law, the first of which took place in Heidelberg from 5 to 10 July 1982. Afterwards, they were held alternately in the USSR (usually in Moscow) and in Germany approximately every two years. Christian Tomuschat, who would later be my doctoral supervisor at the Humboldt University in Berlin, then still a professor in Bonn, was unable to attend the colloquium. In a personal letter to the director of the MPIL, Rudolf Bernhardt, he expressed the hope that a pleasant working atmosphere had prevailed at the colloquium:

“Even Soviet people are ultimately imbued with inner joy when they are cast out of socialist paradise for a little while and have to accept the abasement of human beings in the capitalist system.” [4]

The second joint colloquium on international law took place from 16 to 22 October 1984 in Moscow and Leningrad (today: Saint Petersburg). It was attended not only by leading Soviet‑Russian international law experts such as Grigori Tunkin, but also by international law experts who were to symbolically represent the other Soviet republics – Levan Aleksidze (Georgia), Igor Lukashuk (Ukraine) and Rein Müllerson (Estonia). Wilhelm Karl Geck, a German participant, expressed his approval to MPIL director Rudolf Bernhardt after the colloquium, in a personal letter from 26 September 1984:

“For you, the matter was surely particularly strenuous because you had to react to the various speeches by the Soviet gentlemen, which was not easy in the prevailing circumstances. Even in retrospect, I believe that the German side held up well: Without detailed rebuttal of Soviet attacks, the fundamentally different point of view was expressed in its essential facets.”

Leafing through the Soviet Yearbooks of International Law from the early 1980s (edited by Grigori Tunkin), it is obvious that the Cold War was in full swing and ideological conflict was fierce, also in the field of international law theory. In his diary, published in 2012, Tunkin lists which German international lawyers were present when he visited the MPIL in Heidelberg and gave a lecture there; in particular, he mentions his ‘reactionary’ opponents – above all Boris Meissner. [5]

The third colloquium took place in Kiel from 4 to 8 May 1987. The first two colloquia had dealt with various topics of international law, but now it was probably the influence of the later MPIL director Rüdiger Wolfrums that led to the decision in favour of a more precisely defined overarching topic: International Law and Municipal Law. The colloquium also resulted in an anthology.[6]

One might ask oneself what the international law experts of the GDR may have thought of the German-Soviet Colloquia and whether they felt something like a political or scientific jealousy. Leading GDR international law experts, e.g. Bernhard Graefrath and Peter Alfons Steiniger, likely had no reason to see a possible convergence of Soviet and Western positions as something clearly positive for the GDR. Likewise, certainly not every international law expert in the Soviet Union looked forward to the colloquia – for example, Soviet international law expert Vladimir Pustogarov published a critical book entitled ‘West German Revanchism and International Law’ in 1986.[7]

The German-Soviet Colloquia on International Law gave the German participants the opportunity to observe from the front row how Soviet society changed in the context of perestroika. Some participants (Rainer Hofmann)[8] recall how the power dynamics and relations within the Soviet delegations changed over time and that the younger Soviet international law experts would in later years sometimes contradict their older counterparts, which would probably have been unheard of in the past, at least in front of Western colleagues.

From 29 May to 4 June 1989, another colloquium was held in Moscow – where the Germans stayed in the “Hotel Ukraina” and had lunch in the “Restaurant Praha” (Moscow was still the capital of an empire!). Less than a year later came the reunification of Germany in October 1990.

×

The last colloquium, shortly before the collapse of the Soviet Union took place from 17 to 18 October 1991in Heidelberg. Here, one discussed the topic of Federalism – Constitutional Jurisdiction. In her highly interesting monograph Die Konzepte ’staatliche Einheit’ und ’einheitliche Macht’ in der russischen Theorie von Staat und Recht (“The concepts of ‘state unity’ and ‘unitary power’ in the Russian theory of state and law”), Caroline von Gall shows that some Russian legal scholars later denounced the Germans because the ideology of federalism, propagated at the time, had supposedly harmed Russia’s power-political interests[9] . With the failure of genuine federalism, however, the decision was also made that the Russian Federation, even after the Soviet Union, would remain a quasi-empire with all the negative consequence this entails, both for the neighbouring states and for Russians with differing political views.

The interest in Russia and its international law lives on at the MPIL even today – especially in the academic work of Matthias Hartwig[10] , who has recently retired but continues to conduct research at the institute. Younger international law scholars at the MPIL have also contributed interesting research on this topic.[11] Compared to earlier decades, however, research into the theory and practice of international law in the East does not seem to be a strategic priority these days – which may be an omission, considering Russia’s current war against Ukraine, among other things.

The MPIL survived the Soviet Union. But whether it was the Germans’ better international law arguments that ultimately convinced the Soviet international law experts or rather better consumer goods in the West (or in capitalism) is debatable.

***

The author would like to thank Philipp Glahé and Alexandra Kemmerer for their kind support in accessing the archives at the MPIL with regard to the planning and organisation of the Soviet‑German Colloquia.

Translation from the German original: Sarah Gebel

[1] Photo: MPIL.

[2] Photo: MPIL.

[3] Theodor Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht ‚neuen Typs‘, Berlin: Springer 1979.

[4] Letter by Christian Tomuschat to Rudolf Bernhardt, dated 12 July 1982, Folder “Deutsch-Sowjetisches Kolloquium”, MPIL Archive, translated by the editor.

[5] William Elliott Butler (ed.) The Tunkin Lectures: The Diary and Collected Lectures of G. I. Tunkin at the Hague Academy of International Law, The Hague: Eleven International Publishing 2012.

[6] J. Enno Harders/Grigory I. Tunkin/Rüdiger Wolfrum (eds), International Law and Municipal Law. Proceedings of the German-Soviet Colloqui on International Law at the Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, 4 to 8 May 1987, Berlin: Duncker und Humblot 1988.

[7] Vladimir V. Pustogarov, Zapadno-germanskii revanshizm i mezhdunarodnoe pravo, Moscow: Nauka, 1986.

[8] Personal conversation at the Annual Meeting of the American Society of International Law, 6 April 2024.

[9] Caroline von Gall, Die Konzepte ’staatliche Einheit’ und ’einheitliche Macht’ in der russischen Theorie von Staat und Recht. Der Einfluss des Gemeinschaftsideals auf die russische Verfassungsentwicklung, Berlin: Duncker und Humblot 2010.

[10] See e.g.: Matthias Hartwig, Vom Dialog zum Disput? Verfassungsrecht vs Europäische Menschenrechtskonvention. – Der Fall der Russländischen Föderation, Europäische Grundrechtezeitschrift 44 (2017), 1-23.

[11] See e.g.: Christian Marxsen, The Crimea Crisis. An International Law Perspective, HJIL 74 (2014), 377-391.

Zur China-Reise des Instituts im April 1986

Auf Einladung des Rechtsinstituts der Akademie der Sozialwissenschaften (Chinese Academy of Social Sciences, CASS) hielt sich vom 31. März bis zum 14. April 1986 eine Delegation des Instituts – bestehend aus Herrn Bernhardt, Herrn und Frau Doehring, Herrn und Frau Frowein sowie den Referenten Rudolf Dolzer und Robert Heuser – in der Volksrepublik China auf. Das Hauptanliegen bestand darin, Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf Institutsebene auszuloten.

Um einen Eindruck von Ablauf und Atmosphäre der Reise zu vermitteln, werde ich zunächst auf der Grundlage von Tagebuchnotizen einen Überblick über den äußeren Verlauf geben, um dann eine Skizze zum Wandel des verfassungs- und internationalpolitischen Umfelds anzuschließen.

„Öffnung und Reform“ (Aus einem Reisetagebuch)

Untergebracht in einem im Bungalow-Stil neu erbauten kleinen Hotel im Zentrum Pekings, in dem wir, wie schnell festzustellen war, außer einigen Amerikanern und Nordkoreanern, die einzigen Gäste waren, hieß uns die Leitung des Rechtsinstituts der Akademie in einem Pekingenten-Restaurant willkommen. Eine Programmbesprechung schloss sich an. Dass am folgenden Tages der Sommerpalast oder Yiheyuan 颐和园 besucht wurde, mag auch einem eingespielten Touristenprogramm entsprochen haben; man würde aber den Sinn der Gastgeber für Symbolik unterschätzen, nähme man an, sie hätten eine der Erforschung von Kooperations-Möglichkeiten dienende Reise rein zufällig im „Garten zur Pflege der Harmonie“ beginnen  lassen. Ebenso wenig zufällig wurde anschließend ein Gang durch die Ruinen des im Zweiten Opiumkrieg (1860) von englischen und französischen Truppen zerstörten Alten Sommerpalasts, dem Yuanmingyuan, unternommen, wo die Reste barocker Steinfassaden sich wild übereinander türmten. Auf einer halbversunkenen Steinschwelle ein Graffito – „The Chinese people will never forget.“ So eingeführt, begann am nächsten Morgen das Kolloquium im Akademie‑Institut. Rudolf Dolzer und ein Beamter aus dem Außenwirtschaftsministerium referierten über Investitionsschutzverträge. Es waren aber nur drei Zuhörer erschienen. Wozu hat man uns eingeladen?  Das Mittagessen nahmen die Heidelberger in erheblicher Fruststimmung ein. Später verlautete etwas von „Koordinierungsproblemen“. Sehr lebendig dann aber das Zusammentreffen an der Peking‑Universität mit Wang Tieya, der führenden Völkerrechtsautorität des Landes. Auch seine Magister‑Studenten waren erschienen und zeigten sich vor allem interessiert an den „philosophischen Grundlagen“ der Menschenrechte. Am nächsten Tag sprach Rudolf Bernhardt über „Federalism and Decentralization“ – ein Themenkreis, den ein chinesischer Kollege unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzverteilungim Zentralstaat‑Provinzen‑Verhältnis nach chinesischem Recht aufgriff. Am Abend war die Delegation privat bei der Vizedirektorin des Instituts, der Völkerrechtlerin Sheng Yu, eingeladen. In dem großen Wohnkomplex wohnten fast 5000 höhere Mitarbeiter der Sozialwissenschaftlichen Akademie. Der nächste Tag brachte einen Ortswechsel nach Xi’an, wo wir Zimmer im Renmin-dasha-Hotel – einem sowjet-barocken Palast aus den fünfziger Jahren – bezogen. An der dem Justizministerium unterstellten „Hochschule für Politik und Recht“ wurden drei Vorträge parallel in zwei Sälen mit zusammen mehr als 400 Studierenden gehalten. Ich trug mein Referat über die Entwicklung der europäischen Forschung zum chinesischen Recht in beiden Sälen vor. Danach gingen zahlreiche Zettel mit Fragen ein: „Kann es Rechtsvergleichung zwischen kapitalistischem und sozialistischem Recht geben?“  „Ist es für China sinnvoll, von deutschem oder amerikanischem Recht zu lernen?“  „Was hat die chinesische Rechtsgeschichte für den Aufbau eines modernen Rechtssystems zu bieten?“ Zurück in Peking stieß ich im Xinhua-Buchladen an der Wangfujing-Straße auf eine Aufsatzsammlung des 1983 verstorbenen Völkerrechtlers Chen Tiqiang. Wie Wang Tieya, war auch Chen, der 1948 in Oxford doktoriert hatte, 1957 zum „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt worden. Im Rückblick auf jene Jahre schrieb er kurz vor seinem Tod im Vorwort dieser Aufsatzsammlung: „Nach 1957 führten die Verhältnisse dazu, den Stift aus der Hand zu legen und sich über den Futtertrog zu beugen, untätig seine Zeit verstreichen zu sehen und sich dem Dienst am Staat nicht widmen zu können. “Stocksteif geben sich die Nordkoreaner, wenn man einem von ihnen im Garten begegnet. Heute nach dem Abendessen versuchte ich, Kontakt aufzunehmen. Vier von ihnen unterhielten sich im Garten über das Drachenrelief an der gegenüberliegenden Mauer. Ich fragte, ob es so etwas auch in Korea gäbe. Alle lachten, zuckten die Schultern, verstanden nichts, einer sagte nur „you, you/sicher, gibt es“. Dann erschien der fünfte, und alle atmeten auf, denn er spricht Chinesisch. Sie erkundigten sich über die deutsche Teilung, die gegenseitigen Kontakte, interessierten sich für die Situation der Koreanistik bei uns. Sie sind geschäftlich hier. Die Geschäfte gingen allerdings nur mäßig. Es sei äußerst schwer, mit Chinesen zu verhandeln. Deren manmanlai / „immer mit der Ruhe“ finden sie lustig und ärgerlich zugleich, die geschäftliche Zusammenarbeit gestalte sich schleppend. In China gäbe es eine Kraft, die man nicht sehen könne; sie fließe aus den Dimensionen des Landes und seiner Bevölkerung und aus dem Bewusstsein einer unvergleichlichen historischen und kulturellen Kontinuität.

In der Peking-Universität treffe ich Wang Tieya. Vom Büro der Rechtsfakultät laufen wir zu seinem Institut, das in einem freistehenden pavillonartigen Gebäude aus den letzten Jahren der Qing‑Dynastie untergebracht ist. In der Republikperiode war es Bestandteil der zwischen 1915 und 1920 aus mehreren christlichen Schulen gebildeten Yanjing‑Universität, die bis 1952 existierte. Die Vorstellung eines „spezifisch chinesischen Völkerrechts“, von dem manchmal im Anklang an das sogenannte „sowjetische Völkerrecht“ die Rede ist, hält Wang für unpassend. Den chinesischen Völkerrechtlern obliege zunächst die theoretische Aufarbeitung der Völkerrechtspraxis Chinas. Wang wirkt resigniert und erschöpft. Wie Chen war ihm in seinen besten Jahren ein Berufsverbot auferlegt worden. Zwar musste er nicht wie Chen in der Landwirtschaft arbeiten, sondern konnte sich im Außenministerium mit der Erstellung einer Sammlung der multilateralen Verträge, an denen China beteiligt ist, befassen, war aber von der Völkerrechtslehre abgeschnitten. Immerhin konnte er gemeinsam mit Chen die achte Auflage von Oppenheims „International Law“ übersetzen und Anfang der 1970er Jahre publizieren. Die lange Zeit erzwungener wissenschaftlicher Beschränkung bedrücke ihn aber weniger als die auch im Vergleich zu dem Akademie-Institut miserable finanzielle Ausstattung und die sich darin offenbarende mangelnde öffentliche Wertschätzung völkerrechtlicher Forschung.

In geselliger Runde: Robert Heuser, Eva Maria Doehring, Sheng Yu, Lore Frowein, Jochen Frowein, Rudolf Bernhardt, Rudolf Dolzer und Karl Doehring bei Kollegen der Akademie der Sozialwissenschaften (Foto: MPIL)

Der Vizedekan der juristischen Fakultät der Xi’aner Hochschule und ein Doktorand von Wang Tieya werden in der nächsten Zeit als Stipendiaten am Institut tätig sein. Mit Frau Sheng Yu wurde die Herausgabe einer Sammlung völkerrechtlicher Studien deutscher Autoren in chinesischer Übersetzung vereinbart. Am späten Nachmittag verlassen wir unseren Bungalow wie einen heimatlichen Hafen. Beim Abendessen mit Frau Sheng nebst Mitarbeiter im Flughafenrestaurant wirft sie die Frage auf, ob die Max-Planck-Gesellschaft nicht eine Privatuniversität in Shenzhen errichten wolle. Zu viel für eine letzte Frage.

Vom langen Ende der kurzen Liberalität

Und eine Frage, so lässt sich fast vier Jahrzehnte später hinzufügen, die nur damals aufgeworfen werden konnte und seither nicht wieder. Denn die Erkundungsreise des Instituts fand in der Anfangsphase der Periode von „Öffnung und Reform“ (vor der Zäsur des 4. Juni 1989) statt, als unter „Reform“ auch die Veränderung des politischen Systems in den Blick kommen konnte und sollte. Höhepunkt dieser Entwicklung war der 13.Kongress der Kommunistischen Partei im Oktober 1987, in dessen Umfeld der Rechtsstaatsgedanke über eine verfahrensgebundene Verfügbarkeit des Rechtsystems hinaus als Bindung des Gesetzgebers an bestimmte Qualitätserfordernisse des Rechtsystems wie „Rechte und Freiheiten der Bürger“ angedacht wurde. Für kurze Zeit herrschte eine nie gekannte Meinungs- und Pressefreiheit. „Politische Strukturreform“ sollte Prinzipien der bürgerlichen Verfassung wie Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht länger als „Halluzination“ zurückweisen und tabuisieren, sondern „beispielgebend“ heranziehen.

Diese lebhafteste verfassungspolitische Debatte in der neueren chinesischen Geschichte nahm mit den, aus heutiger Sicht doppelt tragischen, Ereignissen vom Juni 1989 in Peking und in anderen Städten ein jähes Ende. „Politische Strukturreform“ unter Einbezug liberaler Verfassungskonzepte wurde erneut tabuisiert. Zwar wurde zunächst der internationale akademische Austausch in allen Bereichen weiterentwickelt, zahlreiche grenzüberschreitende sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte wurden erfolgreich durchgeführt und die Übersetzung ausländischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Werke nahm einen ständig wachsenden Umfang an, „Reform und Öffnung“ aber konzentrierte sich nun gänzlich auf Fragen der Effizienz des Wirtschaftssystems. Dies umfasste immerhin noch das Bekenntnis zu einer regelbasierten internationalen Ordnung, wie die nun energisch vorangetriebenen Bemühungen, der Welthandelsordnung beizutreten, verdeutlichen. Als der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) Ende 2001 erfolgte, lagen in zahlreichen relevanten Bereichen der Rechtsordnung, besonders auch auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts, die notwendigen Innovationen zwar vor, krankten aber am Mangel einer verwaltungsunabhängigen Gerichtsbarkeit.

Robert Heuser und Karl Doehring vor dem Himmelstempel in Peking (Foto: MPIL)

Wenn man hoffte, dass die weitere Entwicklung des Lebensstandards, der Druck in- und ausländischer Wirtschaftskreise sowie fortgesetzte Aufklärungsarbeit aus den Reihen der Rechtswissenschaft es mittelfristig auch der chinesischen Führung nicht erlauben werde, sich intensiveren rechtsstaatlichen Reformen zu verschließen, so dürfte diese Hoffnung mit der Übernahme der Spitzenämter des Parteistaats durch Xi Jinping 2012/13 auf lange Sicht enttäuscht worden sein. Xis „Chinesischer Traum vom Wiedererstarken der Nation“ geht einher mit einer zunehmenden Abschottung gegen ausländische Einflüsse. Das scheint so weit zu gehen, dass das Schulfach „Englisch“ von einem Kernfach zu einem Nebenfach degradiert wurde und private Sprachschulen schließen mussten. Nach nur fünf Amtsjahren wurde Xi in der Parteihierarchie auf eine Stufe mit Mao Zedong gestellt: Im Oktober 2017 verankerte der 19. Parteikongress „Xi Jinpings Ideen für das neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung“ als zusätzliche Leitlinie im Parteistatut. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im März 2018 als der Nationale Volkskongress per Verfassungsänderung die 1982 eingeführte Begrenzung des Staatspräsidentenamtes (auf zweimal fünf Jahre) aufhob und dem amtierenden Präsidenten, dem man wie einst Mao den zusätzlichen Titel „Volksführer“ /人民领袖 zuerkannte, so eine potentielle Lebenszeitposition einräumte.

Die Volksrepublik China stellt sich unter Xi als ein Regime dar, das Militär- und Wirtschaftsmacht ohne Demokratie und Moderne ohne Freiheit nicht nur als ihre eigene Lebensform feiert, sondern auch den Anspruch erhebt, ein weltweit gültiges Programm für Stabilität und Wohlstand sowie die Befähigung zu besitzen, in der weltweiten Verwirklichung dieses Programms die Leitung zu übernehmen. „Mit dem chinesischen Modell die Welt leiten“ / 用中国模式引领世界, „Chinesische Führung leitet die Welt“ / 中国之治引领世界, sind gängige Slogans. Sie wurden parallel zu dem Mega-Projekt der „Neuen Seidenstraße“, der Initiative „One belt, one road“ / 一带一路工程 geprägt, dem Vorhaben, Staaten zwischen China und Europa mit einem Netzwerk von Straßen, Eisenbahntrassen, Häfen und Pipelines zu überziehen, nicht ausschließlich, aber weitgehend finanziert und errichtet von chinesischen Banken, Ingenieuren und Arbeitern. Dies nicht nur um Chinas Macht auszuweiten, sondern in der erklärten Absicht, eine neue Weltordnung zu schaffen – eine „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ / 人类命运共同体, wie es in der Präambel der 2018 revidierten Verfassung heißt. Durch Bündnisse mit Ländern des globalen Südens und Zentralasiens sucht China der traditionellen, von westlichen Demokratien geprägten Weltordnung einen alternativen Ordnungsrahmen gegenüberzustellen. So war es an der Zeit, dass die EU im März 2019 in einem Strategiepapier festhielt, dass die Volksrepublik China nicht nur ein „Partner“ sei, sondern auch ein „wirtschaftlicher Konkurrent“ und ein „Systemrivale, der alternative Governance-Modelle propagiert“.

Es ist klar, dass unter solchen, sich zunehmend als totalitär erweisenden Verhältnissen – unbegrenzte Parteiherrschaft, umfassende Sozialkontrolle, aggressiver Nationalismus, Re-ideologisierung – der internationale akademische Austausch und besonders grenzüberschreitende Forschungsprojekte stark beeinträchtigt werden und dass für eine Revitalisierung in absehbarer Zukunft keine oder geringe Aussichten bestehen. Zwar kann man sich dem nicht verschließen, was schon das „Lunyu“, der Basistext des Konfuzianismus, bemerkt: „Geht man unterschiedliche Wege, kann man einander keine Ratschläge erteilen“ / 道不同不相為謀,jedoch sollte die Bereitschaft bestehen, auch und gerade unter schwierigen Bedingungen das Gespräch zu suchen und bewährte Kontakte so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.

[1] Bild: MPIL-Archiv

[2] Bild: MPIL-Archiv

Suggested Citation:

Robert Heuser, Zur China-Reise des Instituts im April 1986, MPIL100.de, DOI: 10.17176/20240327-102254-0

Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0 DEED

 

Fontes Juris Gentium. Ein völkerrechtliches Editionsprojekt

Fontes Iuris Gentium. An editorial project on international law

Deutsch

Einleitung. Zur Schaffung eines „Sinnsystems“

Vor etwa 100 Jahren war es wohl allenfalls Utopisten vorstellbar, dass riesige Quellen- und Textsammlungen digital verfügbar sein könnten. Zu jener Zeit waren Textsammlungen dessen, was man als Völkerrecht kannte, äußerst rar und ihre Anpassung an Rechtsentwicklungen allein schon aus technischen Gründen zeit- und natürlich auch kostenaufwendig. Die bedeutendste Sammlung völkerrechtlicher Quellen war seinerzeit der von Martens herausgegebene Recueil völkerrechtlicher Verträge, dessen erster Band bereits 1791 erschien.[1] Diese Publikation wird zurecht als die bedeutendste Grundlage des Völkerrechts und Martens daher als „Vater des positiven Völkerrechts“ angesehen.  Vor diesem Hintergrund war die Idee, weitere völkerrechtliche Quellen zu sammeln und zu publizieren, folgerichtig und es war naheliegend, dass dabei der Blick auf die völkerrechtliche Praxis gelenkt wurde. Die verlässlichste Aussagekraft über diese bot die internationale Gerichtsbarkeit, was zu dem Projekt führte, den völkerrechtlichen Gehalt aus Entscheidungen internationaler Rechtsprechungsorgane kontinuierlich zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Der Urheber des Projekts, Viktor Bruns, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (später Max-Planck-Institut, MPIL), umschrieb die Grundidee folgendermaßen:

„Es ist … Aufgabe der Wissenschaft, die Grundlagen und Grundprinzipien des Völkerrechts als einer Rechtsordnung zu ermitteln und ein System aufzustellen, das aus der Beobachtung der internationalen Praxis gewonnen ist und das ein Sinnsystem ist, das dem Charakter einer Rechtsordnung und im speziellen dem einer Ordnung für das Zusammenleben und den Verkehr der Staaten entspricht. So muß die Theorie des Völkerrechts aus der Erfahrung in der Praxis gewonnen, und so muß die Praxis an den so gewonnenen Erkenntnissen geprüft werden. Das ist nur möglich auf Grund eines umfassenden Überblicks über die internationale Praxis. Diesen Überblick zu verschaffen, ist Zweck der Herausgabe der Fontes Juris Gentium.“[2]

Da bekanntlich Völkerrecht nicht nur Grundlage der Entscheidungen vor internationalen Gerichten ist, sondern auch nationale Gerichte bei ihrer Rechtsfindung Völkerrecht anzuwenden haben, war das Projekt Fontes Iuris Gentium nicht nur darauf angelegt, die Rechtsprechung internationaler Gerichte zu bearbeiten, sondern auch die Positionen nationaler Gerichte zu völkerrechtlichen Fragen aufzuarbeiten. Entsprechend wurden in der Serie der Fontes zur   Gerichtsbarkeit (Series A) zwei Abteilungen vorgesehen: die erste Abteilung (Fontes Iuris Gentium, Series A, Sectio 1) war der internationalen Gerichtsbarkeit gewidmet, das heißt dem Ständigen Schiedshof und dem Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) und dessen Nachfolger, dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Die zweite Abteilung dieser ersten Serie (Fontes Iuris Gentium, Series A, Sectio 2) galt der Erörterung völkerrechtlicher Fragen in den Entscheidungen der obersten Gerichte der wichtigsten Staaten. Zusätzlich zur Serie über die internationale Gerichtsbarkeit wurde eine zweite Serie angelegt, die die politischen und rechtlichen Grundsätze aus dem Notenwechsel der wichtigsten Staaten enthalten sollte (Series B). Geplant, aber niemals ausgeführt wurden zudem eine dritte Serie zu Gutachten und Entscheidungen internationaler Organe, die nicht den Charakter internationaler Gerichte haben (Series C), und schließlich eine vierte Serie (Series D), in der die Vertragsklauseln der wichtigsten, seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschlossenen Verträge enthalten sein sollten.[3] Dass dieses höchst ehrgeizige Vorhaben nur in langfristiger Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaftler durchgeführt werden konnte, war offensichtlich. Daher war es ohne Frage bei einer Forschungseinrichtung wie dem MPILin den richtigen Händen und wohl auch nur hier zu bewältigen.

System und Aufbau der Fontes  

Meine persönliche Erfahrung mit der Arbeit an den Fontes betrifft nur die Serie A, Sectio 1, also die Bearbeitung der Entscheidungen des IGH, beginnend mit der Publikation von Band 6, der die Entscheidungen von 1959-1975 enthält, bis zur Beendigung des Projekts im Jahr 2005.

Als ich 1970 als wissenschaftliche Referentin am MPIL angestellt wurde, war dies in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes, was mir allerdings erst später bewusst wurde. Zum einen war damals schon die Tatsache, dass Frauen im wissenschaftlichen Bereich eingestellt wurden, außergewöhnlich und kann als „Pilotprojekt“ für die dann später zunehmende Einstellung von Kolleginnen angesehen werden. Zum anderen, und wesentlich bedeutender, war die Tatsache, dass meine vita nicht den Lebensläufen bisheriger Mitarbeiter entsprach. Ich hatte nämlich in einem ersten Studium den Weg als Diplomdolmetscherin eingeschlagen und dann bei der EWG mit seinerzeit noch nur sechs Mitgliedstaaten als Simultandolmetscherin gearbeitet. Aber diese wenig kreative Tätigkeit erschien mir auf Dauer nicht befriedigend und so studierte ich dann Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg. Die Kombination aus Sprachkompetenz und erfolgreichem Jurastudium war dann offensichtlich ausschlaggebend für meine Einstellung –insbesondere mit Blick auf das Projekt Fontes, das aufgrund der zunehmenden Zahl von Fällen, die vor den IGH gebracht wurden, intensiveren Einsatz forderte. Erfreulicherweise blieb jedoch trotzdem noch Raum für die Fertigstellung einer Dissertation.[4] Neben den üblichen Aufgaben als wissenschaftlicher Referent am Institut blieb ich bis zur Einstellung 2005 „die Konstante“ des Fontes‑Teams, dessen Leitung ich 1985 übernommen hatte, mit Beginn der Fortführung des  Projekts in der von Professor Rudolf Bernhardt initiierten Form des World Court Digest. Die weiteren drei bis vier Mitglieder der Arbeitsgruppe waren jeweils nur vorübergehend eingebunden.

Wie schon erwähnt, begann meine Tätigkeit an den Fontes mit den beiden Teilbänden von Band 6 der Fontes Series A, Sectio 1. Diese waren (zusammen mit Band 7, der die Dekade von 1976 bis 1985 abdeckt) die letzten Bände, die noch unter dem ursprünglichen Titel und in der ursprünglichen Form der Fontes Iuris Gentium erschienen. Die Dokumentation der späteren Rechtsprechung des IGH wurde dann unter dem Titel World Court Digest fortgeführt, allerdings mit einigen wesentlichen Änderungen.

Aber zunächst einmal zum grundlegenden System der Fontes-Serie. Wie der Titel bereits sagt, handelt es sich um ein Quellenwerk. Das heißt, dass nur Exzerpte aus den Originaltexten der Entscheidungen des Gerichts wiedergegeben wurden. Das schließt natürlich auch Gutachten ein. Da die Entscheidungen jeweils in Englisch und Französisch abgefasst sind, wurden jeweils beide Sprachfassungen aufgenommen, auf der linken Buchseite die französische Fassung, auf der rechten die englische. Exzerpte des authentischen Texts der Entscheidung wurden mit einem Stern (*) gekennzeichnet. Auch Erklärungen und Sondervoten, die den Entscheidungen angefügt sind, wurden ausgewertet und zunächst in kleinerem Druck einbezogen, auch hier wurde jeweils die authentische Sprache kenntlich gemacht. Später, bei der Umstellung auf den World Court Digest, wurde allerdings die Einbeziehung der Sondervoten und Erklärungen zunächst grundsätzlich in Frage gestellt. Die Aufnahme dieser Texte wurde aber dann – glücklicherweise – doch beibehalten, da sie zum Diskussionsstand im Gericht und insbesondere auch zur Entwicklung der Rechtsauffassung des Gerichts außerordentlich informativ sind.

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Die Systematik aller Bände folgt einem einheitlichen Aufbau: Der erste Teil der jeweiligen Bände gilt dem materiellen Recht, das in gleichbleibender Struktur von den Grundlagen und Grundfragen des Völkerrechts über spezielle Rechtsgebiete wie Vertragsrecht, Staatshaftungsrecht, und internationale Organe bis hin zu Krieg und Neutralität reicht. Gerade in diesem Teil hat sich natürlich die Bandbreite der Sachgebiete über die Jahre ganz wesentlich erweitert, da das Völkerrecht immer mehr Bereiche abdeckt, wie zum Beispiel Seerecht, Luft- und Weltraumrecht, Menschenrechte, internationales Wirtschaftsrecht, internationales Umweltrecht, internationales Strafrecht, um nur einige der neueren Aspekte zu nennen. Der zweite Teil eines Bandes gilt jeweils der Struktur der internationalen Gerichtsbarkeit, also dem StIGH und dem KaIGH und hat sich sachlich nicht erweitert. Er behandelt neben den Grundlagen der internationalen Gerichtsbarkeit die Bereiche Zuständigkeit, Verfahren, Urteile und Gutachten.

Wie bereits betont, trug die Publikation ursprünglich den Titel Fontes Iuris Gentium und den Untertitel Handbuch der Entscheidungen des (Ständigen) Internationalen Gerichtshofs. Dieser präzisierende Zusatz war durchaus sinnvoll, denn die Entscheidungen internationaler Gerichte sind als solche nicht „Quellen“ des Völkerrechts, da Gerichte bekanntlich nicht Recht setzen, sondern Recht sprechen. Allerdings sind die Grenzen hier oft fließend, und gerade im Völkerrecht gab es vor 100 Jahren nicht nur „weniger Recht“, sondern vor allem: weniger geschriebenes, kodifiziertes Recht. Aufgabe und Wert der Fontes lag insbesondere darin, genau herauszuarbeiten und zu dokumentieren, was das internationale Gericht als Teil des positiven Völkerrechts festgestellt hatte. Diese Zielsetzung musste bei der konkreten Arbeit immer wieder in Erinnerung gerufen werden, denn bisweilen war es schon sehr verlockend, ein Exzerpt kurz zu halten und damit die Aussage des Gerichts konkreter und definitiver zu fassen, als sie tatsächlich sein sollte. Doch der wissenschaftliche Geist und die Verantwortung des Teams und seines langjährigen Leiters Rudolf Bernhardt führten – wie wir fanden – immer dazu, die „Quelle“ nicht anzutasten und Aussagen so umfänglich wie erforderlich zu reproduzieren, um ihren tatsächlichen Gehalt getreu widerzuspiegeln. Dieses Bestreben führte auch dazu, dass beim Übergang zum World Court Digest längere Exzerpte aufgenommen wurden, um Ausgangspunkt, Parteivorbringen und Bewertung des Gerichts genauer abzubilden. Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Fälle und der Umfang der Entscheidungen im Laufe der Zeit stark zugenommen hatten – was eine erfreuliche Akzeptanz der internationalen Gerichtsbarkeit dokumentiert – wurden damit jedoch auch Einschnitte an anderer Stelle erforderlich. Konkret hatte dies zur Folge, dass die Zweisprachigkeit aufgegeben wurde und nur noch die englischen Texte der Entscheidungen ausgewertet und wiedergegeben wurden – unabhängig davon, ob sie die authentische Textfassung waren.  Neu eingeführt wurde eine Zusammenfassung der Fälle in englischer Sprache, was bei den oft recht komplizierten Grundlagen der Streitigkeiten und auch Gutachtenfragen sehr hilfreich war. Zudem wurde auch eine Liste der Richter und ad hoc Richter des behandelten Zeitraums erstellt, so dass die bearbeitete Periode im Gesamtüberblick leicht zu überschauen war.

Editorische Arbeit im vordigitalen Zeitalter: Mit Schere, Papier und Klebstoff

Wie Viktor Bruns schon im Vorwort zum 1. Band der Serie A, Sectio 1, erwähnt hatte, konnte nur ein Team von Wissenschaftlern, in der Regel vier bis fünf Kollegen, die Arbeit an den Fontes leisten. Das erforderte zunächst einmal vor allem die intensive Lektüre der Entscheidungen und dann, in nicht minder intensiven Diskussionen, die Entscheidung darüber, welche Passagen an welcher Stelle der Systematik wiedergegeben werden sollten. Hierbei war eine gewisse Kontinuität zumindest eines Teils des Teams hilfreich, so dass Erfahrung mit der Kultur der Fontes und neuer Input durch neue Mitarbeiter gleichermaßen permanent gesichert waren. Für neue Teamkollegen, vor allem jüngere Mitarbeiter, bot dies Gelegenheit, sich intensiv mit den Entscheidungen des „Weltgerichtshofs“ zu befassen, die bis heute ein wesentlicher Spiegel des Standes des Völkerrechts und seiner Entwicklung sind. Kritische Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht konnte auf diese Weise hervorragend vermittelt und eingeübt werden.

Dorothee Bender (1970er) (Foto MPIL)

Neben dem „wissenschaftlichen Team“, dem die Auswahl der Exzerpte und ihrer Position in der Systematik oblag, hing die Herstellung der einzelnen Bände natürlich ganz wesentlich von dem „technischen Team“ ab, das in der Regel aus nur zwei oder drei Personen bestand. Die Herstellung des Manuskripts im „vordigitalen Zeitalter“ mag heute geradezu abenteuerlich erscheinen. Sie verdient an dieser Stelle ausdrückliche Würdigung, denn ohne die akribische Mitarbeit der Sekretariate wäre wohl kaum je ein Band erschienen. Natürlich können hier nicht alle einzelnen Mitarbeiterinnen genannt werden, die sich da höchst verdienstvoll betätigt haben, aber stellvertretend soll zumindest Dorothee Bender namentlich erwähnt werden, die über Jahrzehnte der nicht-digitalen Welt diese Arbeit in der ihr eigenen Perfektion hauptverantwortlich bewältigt hat. Und das lief folgendermaßen ab: Wenn das Team sich auf ein Exzerpt und dessen Einordnung in die Systematik geeinigt hatte, wurde dies im Text der Entscheidung kenntlich gemacht und seine Zuordnung vermerkt. Händisch musste dann dieses Exzerpt mit einer Schere aus dem Text ausgeschnitten und auf ein Blatt Papier geklebt werden; die entsprechende Rubrik des Exzerpts sowie die Angabe der Seiten im Urtext waren dann manuell und gut leserlich einzufügen. War ein Exzerpt für mehrere Rubriken vorgesehen, so musste es mehrfach abgetippt werden und den gleichen Weg gehen. Die Entscheidungen des Gerichts sahen nach diesem Prozedere sehr löchrig aus.  Und das Endmanuskript der Fontes bestand schließlich aus den gesammelten Seiten mit den aufgeklebten Exzerpten. Für die beiden Teile von Band 6 zum Beispiel – insgesamt über 830 Seiten – war das ein eindrucksvolles Konvolut, das natürlich noch ungebunden war und daher sorgfältig gehütet werden musste, damit kein einziges Blatt verloren ging oder falsch einsortiert wurde. Dieser zugegeben aufwendigen, aber verlässlichen Art der Manuskriptherstellung haben wir schmerzlich nachgetrauert, als das erste im Institut am Computer verfasste Manuskript, der World Court Digest 1986-1990, plötzlich auf mysteriöse Weise „verschwunden“ war, kurz bevor es zum Verlag gehen sollte –  und auch nur teilweise wieder hergestellt werden konnte. Allerdings blieb dieses Missgeschick einmalig – und die Herstellungsweise konnte insgesamt den technischen Fortschritten angepasst werden, die es bald auch ermöglichten, eine digitale Online-Version zur Verfügung zu stellen.[5]

Schlussbemerkung

Der durch die digitale Entwicklung erleichterte Zugriff auf die Originaltexte der Entscheidungen des IGH ist fraglos sehr zu begrüßen, kann meines Erachtens aber die Fontes Iuris Gentium bzw. den World Court Digest nicht völlig ersetzen. Denn diese Publikationen machten es möglich, die Entwicklungen des Völkerrechts zu bestimmten Sachbereichen, so wie sie in den Entscheidungen des IGH zum Ausdruck kamen, kontinuierlich über Jahrzehnte zu verfolgen. Gerade in den neueren Bereichen des Völkerrechts ist ein solcher „historischer“ Überblick außerordentlich lohnend und hilfreich. Und nebenbei sei bemerkt, dass die Bearbeiter dabei vielfach feststellen konnten, dass ihre Versuchung, Exzerpte kürzer zu fassen, und damit die völkerrechtliche Aussage kategorischer erscheinen zu lassen, als sie seinerzeit wirklich war, der tatsächlichen Entwicklung des Rechts oft nur vorgegriffen hätte. Die mit den Fontes eröffnete Möglichkeit, die Entwicklung des Völkerrechts in einzelnen Bereichen minutiös nachzuverfolgen, reicht nur bis 2005. Danach wurde das gesamte Projekt eingestellt, was, wie alle derartigen Entscheidungen, zwar nachvollziehbar ist, aber eben auch bedauerliche Nebenwirkungen hat.

[1] Georg Friedrich von Martens, Recueil des principaux traités d’alliance, de paix, de trêve, de neutralité, de commerce, de limites, d’échange etc. conclus par les puissances de l’Europe tant d’entre elles qu’avec du monde depuis 1761 jusqu’à présent, Bd. 1, Göttingen: Jean Chretien Dieterich 1791; Ab1819 wurde das Werk von unterschiedlichen Herausgebern bis 1944 fortgeführt unter dem Titel „Recueil Martens“.

[2] Viktor Bruns, Vorwort zu Band 1, Series A, Sectio 1, S. XI.

[3] Erschienen sind in Serie A, Sectio 1 Band 1 (1931), 3 (1935) und 4 (1964) zum Ständigen Internationalen Gerichtshof; Band 2 (1931) zum Ständigen Schiedshof und zum Internationalen Gerichtshof; die Bände 5 (1961), 6 (1978) und 7 (1990) in der „alten“ Fassung unter dem Titel Fontes Iuris Gentium und beginnend mit der Rechtsprechung ab 1986 unter dem Titel World Court Digest die Bände 1-4, die die Rechtsprechung bis einschließlich 2005 umfassen. In der Serie A, Sectio 2, sind in Band 1 (1931) die Entscheidungen des Deutschen Reichsgerichts von 1879 – 1929 bearbeitet worden; in Band 2 (1960) die Entscheidungen  des Reichsgerichts unter Einbeziehung der Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, 1929-1945; Band 3 bis Band 9 betreffen dann die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen bis einschließlich 1985. Die Serie B Sectio 1 umfasst in Band 1 die diplomatische Korrespondenz von 1856 ‑1878 und in Band 2 die diplomatische Korrespondenz von 1871‑1878.

[4] Karin Oellers-Frahm, Die einstweilige Anordnung in der internationalen Gerichtsbarkeit, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Bd. 66, Berlin: Springer 1975.

[5] Diese ist zu finden auf: <www.mpil.de/de/pub/publikationen/archiv/world-court-digest.cfm>.

English

Introduction. On the establishment of a “material system”

Some 100 years ago, only utopians could have imagined that huge collections of legal sources and texts would become available digitally. At that time, collections of texts on what was known as international law were extremely rare and their adaptation to legal developments was – for technical reasons, to begin with – time-consuming and, of course, costly. The most important collection of international law sources at the time was the Recueil of international treaties edited by von Martens, the first volume of which was published as early as 1791.[1]  This publication is rightly regarded as the most important basis of international law and Martens is therefore considered the “father of positive international law”. Against this background, the idea of collecting and publishing further sources of international law was logical, and it was only natural that the focus was to be put on the practice of international law. Here, international jurisdiction offered the most reliable information, which led to the project of continuously compiling and publishing excerpts relevant to the determination of international law from the decisions of international judicial bodies. The initiator of the project, Viktor Bruns, Director of the Kaiser Wilhelm Institute for Comparative Public Law and International Law (later to become the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law, MPIL), described the main concept as follows:

“It is […] the task of science to ascertain the bases and basic principles of international law as a legal order and to draw up a system, informed by the observation of international practice and which is a material system, corresponding to the character of a legal order, specifically an order for the coexistence and interaction of states. Thus, the theory of international law must be extracted from experience in its practice and thus practice must be evaluated on the basis of the findings made in this manner. This is only possible based on a comprehensive overview of international practice. To create this overview is the purpose of the publication of the Fontes Juris Gentium.[2]

As international law is not only the legal basis of decisions of international courts, but national courts also have to apply international law, the Fontes Iuris Gentium project was designed not only to analyse the case law of international courts, but also to examine the positions taken by national courts on questions concerning international law. Accordingly, the Fontes series on jurisdiction (Series A) was divided into two sections: the first section (Fontes Iuris Gentium, Series A, Sectio 1) was devoted to international jurisdiction, i.e. the Permanent Court of Arbitration (PCA) and the Permanent Court of International Justice (PCIJ) as well as its successor, the International Court of Justice (ICJ). The second section of this first series (Fontes Iuris Gentium, Series A, Sectio 2) dealt with questions of international law in decisions of the highest courts of the most important states. In addition to the series on international jurisdiction, a second series was created, containing the political and legal principles derived from the exchange of diplomatic notes between the most important states (Series B). Planned, but never realised, were a third series on opinions and decisions of international bodies that do not have the character of international courts (Series C), and a fourth series (Series D), which was to contain the treaty clauses of the most important treaties concluded since the beginning of the 19th century.[3]  That this highly ambitious project could only be realised through the long‑term collaboration of several scholars was obvious. It was therefore evidently in the right hands at a research institution such as the MPIL and could arguably only be accomplished here.

System and structure of the Fontes 

My personal experience with the work on the Fontes only relates to Series A, Sectio 1, i.e. the processing of the decisions of the ICJ, starting with the publication of Volume 6, which contains the decisions from 1959-1975, until the termination of the project in 2005.

When I came to the MPIL as a research fellow in 1970, it was a special situation in two regards, although I only realised that later. Firstly, the employment of women in the scientific field as such was unusual at the time and can be seen as a “pilot project” for the later increase in the recruitment of female colleagues. Secondly, and much more importantly, my curriculum vitae differed from that of other research fellows. After my first degree I had initially chosen the career of a certified interpreter and had worked as a simultaneous translator at the EEC, which at the time had only six member states. This rather uncreative occupation did not strike me as satisfying in the long term, however, and so I went on to study law at the University of Heidelberg. The combination of language skills and a law degree was obviously the decisive factor in my recruitment – especially with regard to the Fontes project, which, due to the increasing number of cases brought before the ICJ, required more intensive work. Fortunately, however, there was still time to complete a doctoral thesis.[4]  In addition to my regular duties as a research fellow at the Institute, I remained “the constant” of the Fontes team, the leadership of which I took over in 1985, when, on initiative of Rudolf Bernhardt, the project was continued in the form of the World Court Digest. The other three to four members of the working group were each only involved on a temporary basis.

As already mentioned, my work on the Fontes began with the two parts of volume 6 of the Fontes Series A, Sectio 1, which (together with Volume 7, covering the ten-year period from 1976 to 1985) were the last volumes to appear under the original title and in the original form of the Fontes Iuris Gentium. The documentation of the ICJ’s later case law was then continued under the title World Court Digest, albeit with some substantial changes.

But, first of all, to the general structure of the Fontes series: As the title suggests, it is a collection of sources. This means that only excerpts from the original texts of the court’s decisions have been reproduced. This of course also includes advisory opinions. As the decisions are each formulated in English and French, both language versions were included, the French version on the left side of the book and the English version on the right side. Excerpts from the authentic text of the decisions were marked with an asterisk (*). Declarations as well as separate and dissenting opinions attached to the decisions were also analysed and initially included in smaller print; here, too, the authentic language was indicated. Later, during the transition to the World Court Digest, the inclusion of the separate opinions and declarations was called into question fundamentally. Fortunately, however, it was decided to continue with this practice after all, as these texts are extremely informative with regard to the state of the legal debate within the Court and, in particular, the development of the Court’s legal opinion.

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The composition of all volumes follows a standardised structure: The first part of each volume is devoted to substantive law, with a uniform structure ranging from the foundations and basic questions of international law to specific areas such as treaty law, the law of state responsibility, international organs and war and neutrality. In this part in particular, the range of subject matters has significantly increased over the years, as international law now covers more and more areas, such as the law of the sea, aviation law, space law, human rights law, international commercial law, international environmental law, and international criminal law, to name just a few of the more recent aspects. The second part of each volume is devoted to the structure of international jurisdiction, i.e. the PCIJ and the ICJ, and has not been expanded in terms of subject matter. It covers the foundations of international jurisdiction as well as the areas of jurisdiction, proceedings, judgements, and advisory opinions.

As previously highlighted, the publication was originally entitled Fontes Iuris Gentium and subtitled Handbuch der Entscheidungen des (Ständigen) Internationalen Gerichtshofs (“Digest of the Decisions of the (Permanent) International Court of Justice”. This clarifying addition was needed, as decisions of international courts are not as such “sources” of international law, since courts do not make, but apply law. However, the boundaries are often blurred, and in international law in particular there was not only “less law” 100 years ago, but above all, there was less positive/written, law. The significance and value of the Fontes lay in particular in precisely identifying and documenting what an international court had found to constitute part of positive international law. This objective had to be kept in mind in the course of the work, as it was sometimes very tempting to keep an excerpt short and thus make the Court’s statement appear more concrete and definitive than it actually was. However, the scientific spirit and responsibility demonstrated by the team and its long-standing head Rudolf Bernhardt always ensured – we believed – the safeguarding of the “sources’” integrity and the reproduction of statements as comprehensively as necessary in order to accurately reflect their true content. This ambition also led to the inclusion of longer excerpts after the transition to the World Court Digest with the aim to reflect the question at stake, the point of view of the parties and the assessment of the Court in more detail.  However, in view of the fact that the number of cases and the volume of decisions had increased significantly over time – which documents a commendable acceptance of international jurisdiction – this made it necessary to make cuts elsewhere in the new edition. Specifically, bilingualism was abandoned and only the English texts of the decisions were now analyzed and reproduced – regardless of whether they were the authentic text version.  A summary of the cases in English was newly introduced, which was very helpful in view of the often quite complicated origins of the contentious cases and advisory opinions. In addition, a list of the judges and ad hoc judges of the period covered was compiled, so that the period dealt with could be easily overseen at a glance.

Editorial work in the pre-digital age: with scissors, paper, and glue

As Viktor Bruns had mentioned in the preface to the first volume of Series A, Sectio 1, only a team of scholars, usually four to five colleagues, could accomplish the work on the Fontes. It required, first of all, an intensive reading of the decisions and then, in no less intense discussions, the making of decisions as to which passages should be reproduced and at which point in the systematic overview. A certain continuity of at least part of the team was helpful here, so that experience with the culture of the Fontes as well as new input from new team members were ensured on a permanent basis. For colleagues, especially younger employees, this provided an opportunity to familiarise themselves intensively with the decisions of the “World Court”, which to this day are an essential reflection of the state of international law and its development. In this way, critical analysis of international law was excellently conveyed and practised.

Dorothee Bender (1970s, photo: MPIL)

In addition to the “scientific team”, which was responsible for the decisions on the selection of excerpts and their position, the production of the individual volumes was of course largely dependent on the “technical team”, which usually consisted of just two or three members. The production of the manuscript in the “pre-digital age” may, from today’s perspective, seem quite adventurous. It deserves to be explicitly recognised here, as without the meticulous cooperation of the secretary’s offices, any volume would hardly ever have been published. Of course, it is not possible to name all the individual members of staff who deserve high appreciation for their efforts, but pars pro toto Dorothee Bender should be mentioned by name here, as she was primarily responsible for this work over decades in the non-digital age and managed it with immanent perfectionism. The process was as follows: Once the team had agreed on an excerpt and its categorisation in the system, this was indicated in the text of the decision and its categorisation was noted. This excerpt then had to be cut out of the text by hand with scissors and glued onto a sheet of paper; the corresponding heading of the excerpt and the page number in the original text then had to be inserted manually and in a clearly legible manner. If an excerpt was intended for several headings, it had to be typed out several times and then followed the same process. The decisions of the court looked very holey after this procedure.  The final manuscript of the Fontes ultimately consisted of the collected pages with the glued‑on excerpts. For the two parts of volume 6, for instance – which totalled over 830 pages ‑ this was an impressive compilation, which was of course still unbound and therefore had to be carefully guarded so that not a single page was lost or misplaced. We mourned the loss of this admittedly time-consuming but reliable way of producing manuscripts when the first manuscript written on a computer at the Institute, the World Court Digest 1986-1990, suddenly and mysteriously “disappeared” shortly before it was due to go to the publisher – and could only be partially restored. However, this mishap remained a one-off – and the overall production method could be modified in line with technological advances, which soon made it possible to provide a digital online version.[5]

Concluding remarks

The facilitation of access to the original texts of the decisions of the ICJ by digital innovations is undoubtedly to be commended, though in my opinion it cannot completely replace the Fontes Iuris Gentium or the World Court Digest. After all, these publications have made it possible to follow developments in international law in certain subject areas, as expressed in the decisions of the ICJ, continuously over decades. Especially in the more novel areas of international law, such a “historical” overview is extremely worthwhile and helpful. And, it may be noted in this context, that the editors have often realised that their temptation to shorten excerpts, and thus to make the statements on international law appear more categorical than they really were at the time, would often have anticipated the actual development of the law in many cases. The opportunity to trace the development of international law in individual areas in minute detail offered by Fontes only lasted until 2005; then, the entire project was discontinued, which, like all such decisions, is understandable but also has some regrettable consequences.

Translation from the German original: Sarah Gebel

[1] Georg Friedrich von Martens, Recueil des principaux traités d’alliance, de paix, de trêve, de neutralité, de commerce, de limites, d’échange etc. conclus par les puissances de l’Europe tant d’entre elles qu’avec du monde depuis 1761 jusqu’à présent, vol. 1, Göttingen: Jean Chretien Dieterich 1791; From 1819 to 1944 the edition was published by various editors under the title “Recueil Martens”.

[2] Viktor Bruns, Preface of vol. 1, Series A, Sectio 1, S. XI.

[3] Published in Series A, Sectio 1 are volumes 1 (1931), 3 (1935) and 4 (1964) on the Permanent Court of International Justice; volume 2 (1931) on the Permanent Court of Arbitration and the International Court of Justice; volumes 5 (1961), 6 (1978) and 7 (1990) in the “old” version under the title Fontes Iuris Gentium and, starting with the case law from 1986, volumes 1-4 under the title World Court Digest, which cover the case law up to and including 2005. In Series A, Sectio 2, Volume 1 (1931) contains the decisions of the German Reichsgericht (supreme criminal and civil court in the German Empire and Weimar Republic) from 1879 to 1929; Volume 2 (1960) contains the decisions of the Reichsgericht under consideration of the Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (constitutional court of the Weimar Republic), 1929-1945; Volumes 3 to 9 then cover case law of the highest German courts concerning international law up to and including 1985. Series B Sectio 1 comprises the diplomatic correspondence from 1856 to 1878 in Volume 1 and the diplomatic correspondence from 1871 to 1878 in Volume 2.

[4] Karin Oellers-Frahm, Die einstweilige Anordnung in der internationalen Gerichtsbarkeit, Contributions on Comparative Public Law and International Law vol. 66, Berlin: Springer 1975.

[5] This can be found at: <www.mpil.de/de/pub/publikationen/archiv/world-court-digest.cfm>.

 

Aus dem Leben des Instituts im Jahre 1987

Unter besonderer Berücksichtigung einer Anfrage von Amnesty International zu Strafverpflichtungen im Völkerrecht

Das Institut stellte seine Expertise im Rahmen seiner Möglichkeiten in den Dienst der Allgemeinheit. In diesem Sinne beantwortete es Gutachtenanfragen von Gerichten und Behörden und auch einmal von Amnesty International. Amnesty International hatte im Sommer 1987 eine damals progressive Frage an das Institut gerichtet: Verstößt das argentinische Gesetz über die Gehorsamspflicht gegen das Völkerrecht? Dieses Gesetz sicherte insbesondere Militärs bis zum Range eines Brigadegenerals Straffreiheit zu. Umstritten war das Gesetz vor allem deshalb, weil es Straffreiheit auch für während der Diktatur begangene flagrante Menschenrechtsverletzungen gewährte, wie grausame Folterungen und das Verschwindenlassen Hunderter von Personen. Die Anfrage war an das Institut gerichtet. Warum ich sie schließlich bearbeitete, hängt mit der damaligen Organisation und Arbeitsweise des Instituts zusammen, die ich im Folgenden skizziere.

Organisation und Arbeitsweise des Instituts: Fachreferate

Das Institut war damals nach Rechtsgebieten und Rechtssystemen aufgeteilt, mit Sachgebiets-Referaten und Länder-Referaten. Es gab Länderreferenten für eine Vielzahl von Staaten, darunter Spezialisten für Russland, China, den arabischen Raum etc., die die jeweiligen Sprachen fließend beherrschten. (Das bleibt auch zu Zeiten des Internets wichtig. Ohne Sprachkenntnisse bzw. nur aufgrund von DeepL Übersetzungen kann man fremde Rechtsordnungen nicht wirklich verstehen und findet schwerer Zugang zur Fachdiskussionen in anderen Rechtskreisen.) Von den für ein Gebiet zuständigen Referenten und Mitarbeitern des Instituts wurde erwartet, dass sie Bescheid wussten über das Rechtssystem, die Sprache und die politischen Entwicklungen in „ihren“ Ländern. Über die politische Entwicklung informierte man sich anhand der fremdsprachigen Zeitungen und Zeitschriften im Lesesaal. Parallel zu den Länder-Referaten bestanden Sachgebiets-Referate, wie z.B. Seerecht und Menschenrechtsschutz.

Die Fachreferate waren auch wichtig zur Vorbereitung der großen rechtsvergleichende Kolloquien, die regelmäßig am Institut stattfanden und der Feststellung von Völkergewohnheitsrecht dienten. Völkergewohnheitsrecht beruht auf der Praxis der Staaten und der Rechtsüberzeugung. Die Praxis der Staaten wurde anhand von Länderberichten ermittelt. Diese Länderberichte erarbeiteten eigens eingeladene ausländische Wissenschaftler, unterstützt von Fachreferenten des Instituts, die auch die sog. Querberichte, das heißt vergleichende Sachberichte und Zusammenfassungen der Diskussion erstellten.[1]

Nur an einer Einrichtung wie dem Institut, mit Fachreferenten, einer guten Bibliothek und gutem Zugang zu Dokumenten, die für die Feststellung der Staatenpraxis von Bedeutung sind, war es so möglich, die wesentlichen Rechtskreise abzudecken. Die dafür notwendige, auf gegenseitige Ergänzung angelegte Kooperation rechtfertigte nach Institutsdirektor Karl Doehring überhaupt erst die Existenz des Instituts. Denn die Rechtswissenschaften sind nicht auf teure Laborplätze angewiesen. Originelle Ideen entwickeln können die Professoren und Nachwuchsforscher auch an der Universität, an der zudem die Interdisziplinarität besser gewährleistet ist. Für die Entwicklung der Ideen braucht man keine Vielzahl an Mitarbeitern, für die Kärrnerarbeit der Feststellung der Staatenpraxis hingegen schon.

Die Autorin 1985 auf der Tunis Akademie de droit constitutionnel (Foto: privat)

Zum Zeitpunkt der Anfrage von Amnesty International war mir u.a. Lateinamerika und Menschenrechtsschutz zugeteilt. Daher wurde die Anfrage an mich weiter gereicht. Zwar hätte ich zur Abwechslung auch gerne einmal das internationale Wirtschaftsrecht betreut. Jedoch knüpfte die Zuteilung an meine Dissertation zum interamerikanischen System zum Schutz der Menschrechte an. Zudem war ich über den damaligen Präsidenten des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und späteren Richter am Internationalen Gerichtshof Thomas Buergenthal an das Institut gekommen.

Die Referentenbesprechungen

Die zuständigen Referenten stellten die aktuellen Entwicklungen und kontroversen Rechtsfragen in den verschiedenen Rechtsgebieten und Rechtssystemen im Rahmen der Referentenbesprechungen vor. Größtenteils identifizierten die Referenten berichtenswerte Vorgänge in ihren Sachbereichen selbst und meldeten ihre geplanten Beiträge bei den Direktoren an. Es kam auch vor, dass ein Direktor einen Referenten auf eine berichtenswerte Entwicklung hinwies.

Die Referentenbesprechungen fanden immer montags von 16 bis 18 Uhr unter der Leitung eines Institutsdirektors statt. Die Kurzbeiträge, überwiegend zu Urteilen nationaler und internationaler Gerichte, wurden im Kontext und im Hinblick auf die Entwicklung der Völkerrechtspraxis analysiert und in der Runde mit den anderen Institutsdirektoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern diskutiert. Dies konnte die Grundlage für Veröffentlichungen sein. Die am Institut beschäftigen Referendare und Referendarinnen mussten den Inhalt der Referentenbesprechungen in prägnanten Protokollen zusammenfassen. Deren Lektüre dürfte noch heute von Interesse sein.

Was in der Referentenbesprechung nur angerissen worden war oder unklar blieb, konnte anschließend im „Alt Hendesse“ bei Bier oder Wein wieder aufgegriffen und vertieft werden. Wer nicht hinreichend zu Wort gekommen war, konnte offen gebliebene Fragen in die Runde werfen, und zwar jenseits der leicht hierarchischen Struktur der vorangegangenen Referentenbesprechung. Anfangs gab es keinen festen Endpunkt für die Abende im „Alt Hendesse“.

Integration von Praxis, Wissenschaft und Lehre

Im Institut gingen damals internationale und nationale Richterpersönlichkeiten ebenso wie sonstige weltbekannte Koryphäen des Völkerrechts ein und aus. Thomas Buergenthal war ein Freund von Institutsdirektor Rudolf Bernhardt und oft am Institut. Jeder Mitarbeiter lernte am Institut en passant internationale Richter wie ihn, Richter des Bundesverfassungsgerichts einschließlich seiner Präsidenten, ausländische Verfassungsrichter sowie Richter und Generalanwälte des EuGH und Richter des EGMR kennen. Die Verzahnung des Instituts mit Völkerrechtspraxis und Lehre war sehr eng. Hermann Mosler war bekanntlich Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag; Rudolf Bernhardt war Richter (1981-1998), zeitweise Vize-Präsident (ab 1992) und Präsident (1998) des EGMR; Jochen Abr. Frowein war Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission. Hiervon erzählte er ausgiebig. Herrn Professor Bernhardt durfte ich im Öztürk-Fall zuarbeiten, wonach Verwaltungssanktionen Strafen im Sinne der EMRK sein können. Herr Bernhardt gratulierte mir, als der EGMR meiner, aber nicht seiner eigenen Auffassung entsprechend entschied.[2]

Auch die Beziehungen mit den Universitäten waren eng. Institutsdirektor Karl Doehring hatte einen vollen Lehrstuhl an der Juristenfakultät der Universität Heidelberg. Morgens war er an der Fakultät, nachmittags in seinem Büro im Institut. Dort stand jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin jederzeit die Tür offen. Auch einer ausländischen Putzfrau, die Sorgen hatte, hat er geholfen. Wiederholt war Doehring Dekan der Juristenfakultät, so im Jahr der Feierlichkeiten zum 600-jährigen Jubiläum der Universität Heidelberg. Diese boten wiederum den Rahmen für Begegnungen auch des Institutsnachwuchses mit internationalen Koryphäen des Völker- und Europarechts.

MitarbeiterInnen des Instituts lehrten an der Universität. Karin Oellers-Frahm lehrte z.B. Einführung in das französische Recht an der Universität Heidelberg. Ich durfte schon vor meinem zweiten Staatsexamen die Vorlesung Einführung in das angloamerikanische Recht an der Universität Heidelberg halten, ebenso Vorlesungen zu Europarecht und Internationalen Organisationen für Nebenfachstudenten.

Weiter lud die Heidelberger Gesellschaft regelmäßig bekannte Rechtswissenschaftler zu Vorträgen in das Max-Planck-Haus ein. Anschließend gab es einen Empfang mit Wein (gestiftet von der BASF) und ein Abendessen in kleinerem Kreis. Ich habe es als großes Privileg empfunden, auf diese Weise so viele namhafte Rechtswissenschaftler kennen zu lernen und mit ihnen schon als junge Referendarin zu diskutieren.

Dabei zeigten sich auch kulturelle Unterschiede. Mit US-amerikanischen Wissenschaftlern und Richtern, die oft deutsch konnten, duzte man sich, mit den Institutsdirektoren, die man viel häufiger sah, war das damals natürlich ausgeschlossen.

Unkonventionelle Bearbeitung der Anfrage von Amnesty International

Die Hilfestellung für Amnesty International war aus zweierlei Gründen unkonventionell, inhaltlich und was die Präsentation anging. Wie anfangs schon erwähnt, war 1987 noch nicht anerkannt, dass sich aus dem allgemeinen Völkerrecht Verpflichtungen der Staaten ergeben können, bestimmte Taten zu bestrafen, die die eigenen Staatsangehörigen auf dem Staatsterritorium begehen. Dies betrachtete man vielmehr als innere Angelegenheit. Ich argumentierte damals aber in Richtung einer Verpflichtung aus allgemeinem Völkerrecht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. Angesichts der Praxis im Interamerikanischen System zum Schutz der Menschrechte würde eine solche Verpflichtung unter Umständen auch Amnestiegesetzen entgegenstehen.[3]

Ein Institutsdirektor bedeutete mir, dass eine so progressive These nicht als Institutsgutachten verbreitet werden solle. Wenn ich so ausschließlich unter meinem Namen argumentiere, sei aber nichts einzuwenden. Meine Thesen hatte ich in regem Austausch mit Karl Doehring erarbeitet. Er war gerade auch an kontroversen und unkonventionellen Thesen interessiert, egal ob er sie teilte oder nicht. Man musste nur, wie er so oft betonte, „schlüssig“ argumentieren. Irrelevant war auch, dass ich nicht seine, sondern Assistentin von Rudolf Bernhardt war. Intensiv mit Karl Doehring hatte ich damals diskutiert, inwiefern Völkergewohnheitsrecht aus Verträgen abgeleitet werden kann.

Präsentation durch Institutsdirektor Karl Doehring

Das Gutachten sollte ich am 21. August 1987 bei einer Pressekonferenz von Amnesty International in Stuttgart präsentieren. Hier gab es aber Bedenken seitens meines Mannes. Denn am 22. August 1987, also am darauffolgenden Tag, war der errechnete Geburtstermin für unser erstes Kind. Auch die Institutsdirektoren Doehring und Frowein hatten Bedenken gegen meine Fahrt nach Stuttgart bei einer solchen Terminkonstellation. Was tun? Karl Doehring fand eine Lösung. Er bot an, nach Stuttgart zu fahren und das Gutachten für mich zu präsentieren. So haben wir es gemacht und alle waren zufrieden, auch Amnesty International. Hiermit kommen wir zur Situation der Frauen am damaligen Institut.

Zur Situation der Frau am Institut

Frauen in der Forschung waren am MPIL lange unterrepräsentiert: José Puente, Rudolf Halberstadt, Karin Oellers-Frahm, Pierre Pescatore auf der Tagung „Völkerrecht als Rechtsordnung“ 1975 (Foto:MPIL)

Frau Dr. Karin Oellers-Frahm war lange die einzige Referentin, die halbtags am Institut tätig war. Dies galt bei vielen als ideale und vorbildhafte Lösung für eine Frau. Die Habilitation einer Frau sei kaum mit Kind und Familie vereinbar. Das musste sich später eine Institutskollegin, die extern habilitierte, von ihrem Habilitationsvater anhören.

Bei den zahlreichen Begegnungen mit den Koryphäen aus Völkerrechts- und Verfassungsrechtswissenschaft und -praxis am Institut waren Wissenschaftlerinnen kaum anzutreffende Ausnahmen. Ein angesehener deutscher Kollege sagte mir im Rahmen einer der damals häufigen akademischen Feierlichkeiten am Institut, ich sei doch viel zu schade für die Wissenschaft, ich solle lieber Kinder kriegen. Das entmutigte mich aber keineswegs. Zudem handelte es sich um einen gutwilligen Kollegen, der mich später bei Bewerbungen an Universitäten unterstützte.

Ein anderer Kollege allerdings riet mir dringend ab, mich auf einen bestimmten Lehrstuhl zu bewerben. Wenn ich das täte, müsste er mich extra schlecht reden, um sich vor der Frauenbeauftragten zu schützen, wie er sagte. Beim Fakultätsausflug wurde Institutsdirektor Doehring von Kollegen Othmar Jauernig verspottet: Man brauche an der Juristenfakultät Heidelberg keine Frauenbeauftragte, diese Funktion fülle ja der Kollege Karl Doehring aus (da er mich habilitierte). Meine Habilitationsschrift wurde nicht nur, wie üblich, von meinem Habilitationsvater Karl Doehring und einem zweiten Fakultätskollegen, Eberhard Schmidt-Assmann gelesen, sondern von allen Institutsdirektoren, also auch von den Herren Helmut Steinberger, Rudolf Bernhardt und Jochen Abr. Frowein. Denn, so einer von ihnen: Wenn man der Fakultät schon eine Frau präsentiere, müsse sie extra gut sein.

Trotzdem war es schön am Institut und es gab auch in Bezug auf die Frauenfrage hoch Erfreuliches. Sehr gefreut hatte ich mich, dass mir zum 1. August 1987 eine Referentenstelle am Institut angeboten wurde, obwohl ich am 22. August meinen ersten Sohn gebar. Alle, einschließlich aller Direktoren, waren sehr nett und verständnisvoll. Die Rede war auch vom „Institutsbaby“, da mein Sohn zum Stillen gebracht wurde. Als unser Sohn drei oder vier Jahre alt war, besuchten wir am Wochenende mindestens einmal Institutsdirektor Karl Doehring. Er arbeitete samstags regelmäßig am Institut. Karl Doehring hatte eine Zielscheibe und Pistolen für uns mitgebracht. Der kleine Sohn und wir hatten Spaß beim Schießen im Büro.

Familiäre Atmosphäre

Die Atmosphäre war damals familiär am Institut. Alle MitarbeiterInnen sollten dazu gehören, auch gerade die nicht-wissenschaftlichen. Insbesondere die Weihnachtsfeier verstand Institutsdirektor Doehring als Dank der wissenschaftlichen Mitarbeiter an die nicht-wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, die die Arbeit der Wissenschaftler erst ermöglichten.

„Die Verwaltung“: Hilde Vaupel und Gerda Wallenwein 1970er (Foto:MPIL)

Frau Wallenwein und Frau Vaupel bildeten „Die Verwaltung“ des Instituts. „Die Verwaltung“ hatte mich hilfreich angerufen und auf ein zur Vermietung stehendes Zimmer in Handschuhsheim hingewiesen, als ich neu nach Heidelberg kam. „Die Verwaltung“ hatte mich im Krankenhaus besucht, als ich kurz dort lag. „Die Verwaltung“ wusste auch, mit wem ich in Urlaub fuhr. Die elegante Frau Weinmann aus dem Vorzimmer Frowein beriet mich in Sachen Kleidung bei meinem Kuratoriumsvortrag und wies mich auf Modefehler (zu kurzes Kleid) hin.

Die Zeit am Institut als Privileg

Es war ein großes Privileg, am Institut arbeiten zu dürfen. Rudolf Bernhard, dem ich zugeordnet war, ließ mir ausreichend Zeit, meine Dissertation zu erstellen. Die Aufträge, die ich zu bearbeiteten hatte, waren stets interessant und ich konnte dabei lernen: Gutachten und wissenschaftlich interessante Zuarbeit, Mitarbeit an den von Bernhardt herausgegebenen Fontes Iuris Gentium, Artikel für das weltbekannte Lebenswerk von Institutsdirektor Bernhardt, die Encyclopedia of Public International Law (EPIL). Hinzu kommen die schon erwähnten vielfältigen Begegnungen mit der Verfassungs- und Völkerrechtsprominenz. Und wenn ich heute zu einem Kolloquium der Höchstgerichte gehe, dann treffe ich im Zweifel mindestens eine Kollegin aus der gemeinsamen Zeit am Max-Planck-Institut, so zum Beispiel die Professorinnen Anja Seibert-Fohr und Angelika Nussberger (beide EGMR) und Christine Langenfeld (BVerfG).

[1] Vgl. zB Frowein/Stein (Hrsg.), Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, Beiträge zum ausl. öff. Recht und Völkerrecht, Bd. 94 (1987).

[2] EGMR, appl. no. 8544/79, Urt. 21.2.1984 – Öztürk/Deutschland.

[3] J. Kokott, Völkerrechtliche Beurteilung des argentinischen Gesetzes Nr. 23.521 über die Gehorsamspflicht (obediencia debida), ZaöRV 1987, 506 et seq.