Auf Einladung des Rechtsinstituts der Akademie der Sozialwissenschaften (Chinese Academy of Social Sciences, CASS) hielt sich vom 31. März bis zum 14. April 1986 eine Delegation des Instituts – bestehend aus Herrn Bernhardt, Herrn und Frau Doehring, Herrn und Frau Frowein sowie den Referenten Rudolf Dolzer und Robert Heuser – in der Volksrepublik China auf. Das Hauptanliegen bestand darin, Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf Institutsebene auszuloten.
Um einen Eindruck von Ablauf und Atmosphäre der Reise zu vermitteln, werde ich zunächst auf der Grundlage von Tagebuchnotizen einen Überblick über den äußeren Verlauf geben, um dann eine Skizze zum Wandel des verfassungs- und internationalpolitischen Umfelds anzuschließen.
„Öffnung und Reform“ (Aus einem Reisetagebuch)
Untergebracht in einem im Bungalow-Stil neu erbauten kleinen Hotel im Zentrum Pekings, in dem wir, wie schnell festzustellen war, außer einigen Amerikanern und Nordkoreanern, die einzigen Gäste waren, hieß uns die Leitung des Rechtsinstituts der Akademie in einem Pekingenten-Restaurant willkommen. Eine Programmbesprechung schloss sich an. Dass am folgenden Tages der Sommerpalast oder Yiheyuan 颐和园 besucht wurde, mag auch einem eingespielten Touristenprogramm entsprochen haben; man würde aber den Sinn der Gastgeber für Symbolik unterschätzen, nähme man an, sie hätten eine der Erforschung von Kooperations-Möglichkeiten dienende Reise rein zufällig im „Garten zur Pflege der Harmonie“ beginnen lassen. Ebenso wenig zufällig wurde anschließend ein Gang durch die Ruinen des im Zweiten Opiumkrieg (1860) von englischen und französischen Truppen zerstörten Alten Sommerpalasts, dem Yuanmingyuan, unternommen, wo die Reste barocker Steinfassaden sich wild übereinander türmten. Auf einer halbversunkenen Steinschwelle ein Graffito – „The Chinese people will never forget.“ So eingeführt, begann am nächsten Morgen das Kolloquium im Akademie‑Institut. Rudolf Dolzer und ein Beamter aus dem Außenwirtschaftsministerium referierten über Investitionsschutzverträge. Es waren aber nur drei Zuhörer erschienen. Wozu hat man uns eingeladen? Das Mittagessen nahmen die Heidelberger in erheblicher Fruststimmung ein. Später verlautete etwas von „Koordinierungsproblemen“. Sehr lebendig dann aber das Zusammentreffen an der Peking‑Universität mit Wang Tieya, der führenden Völkerrechtsautorität des Landes. Auch seine Magister‑Studenten waren erschienen und zeigten sich vor allem interessiert an den „philosophischen Grundlagen“ der Menschenrechte. Am nächsten Tag sprach Rudolf Bernhardt über „Federalism and Decentralization“ – ein Themenkreis, den ein chinesischer Kollege unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzverteilungim Zentralstaat‑Provinzen‑Verhältnis nach chinesischem Recht aufgriff. Am Abend war die Delegation privat bei der Vizedirektorin des Instituts, der Völkerrechtlerin Sheng Yu, eingeladen. In dem großen Wohnkomplex wohnten fast 5000 höhere Mitarbeiter der Sozialwissenschaftlichen Akademie. Der nächste Tag brachte einen Ortswechsel nach Xi’an, wo wir Zimmer im Renmin-dasha-Hotel – einem sowjet-barocken Palast aus den fünfziger Jahren – bezogen. An der dem Justizministerium unterstellten „Hochschule für Politik und Recht“ wurden drei Vorträge parallel in zwei Sälen mit zusammen mehr als 400 Studierenden gehalten. Ich trug mein Referat über die Entwicklung der europäischen Forschung zum chinesischen Recht in beiden Sälen vor. Danach gingen zahlreiche Zettel mit Fragen ein: „Kann es Rechtsvergleichung zwischen kapitalistischem und sozialistischem Recht geben?“ „Ist es für China sinnvoll, von deutschem oder amerikanischem Recht zu lernen?“ „Was hat die chinesische Rechtsgeschichte für den Aufbau eines modernen Rechtssystems zu bieten?“ Zurück in Peking stieß ich im Xinhua-Buchladen an der Wangfujing-Straße auf eine Aufsatzsammlung des 1983 verstorbenen Völkerrechtlers Chen Tiqiang. Wie Wang Tieya, war auch Chen, der 1948 in Oxford doktoriert hatte, 1957 zum „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt worden. Im Rückblick auf jene Jahre schrieb er kurz vor seinem Tod im Vorwort dieser Aufsatzsammlung: „Nach 1957 führten die Verhältnisse dazu, den Stift aus der Hand zu legen und sich über den Futtertrog zu beugen, untätig seine Zeit verstreichen zu sehen und sich dem Dienst am Staat nicht widmen zu können. “Stocksteif geben sich die Nordkoreaner, wenn man einem von ihnen im Garten begegnet. Heute nach dem Abendessen versuchte ich, Kontakt aufzunehmen. Vier von ihnen unterhielten sich im Garten über das Drachenrelief an der gegenüberliegenden Mauer. Ich fragte, ob es so etwas auch in Korea gäbe. Alle lachten, zuckten die Schultern, verstanden nichts, einer sagte nur „you, you/sicher, gibt es“. Dann erschien der fünfte, und alle atmeten auf, denn er spricht Chinesisch. Sie erkundigten sich über die deutsche Teilung, die gegenseitigen Kontakte, interessierten sich für die Situation der Koreanistik bei uns. Sie sind geschäftlich hier. Die Geschäfte gingen allerdings nur mäßig. Es sei äußerst schwer, mit Chinesen zu verhandeln. Deren manmanlai / „immer mit der Ruhe“ finden sie lustig und ärgerlich zugleich, die geschäftliche Zusammenarbeit gestalte sich schleppend. In China gäbe es eine Kraft, die man nicht sehen könne; sie fließe aus den Dimensionen des Landes und seiner Bevölkerung und aus dem Bewusstsein einer unvergleichlichen historischen und kulturellen Kontinuität.
In der Peking-Universität treffe ich Wang Tieya. Vom Büro der Rechtsfakultät laufen wir zu seinem Institut, das in einem freistehenden pavillonartigen Gebäude aus den letzten Jahren der Qing‑Dynastie untergebracht ist. In der Republikperiode war es Bestandteil der zwischen 1915 und 1920 aus mehreren christlichen Schulen gebildeten Yanjing‑Universität, die bis 1952 existierte. Die Vorstellung eines „spezifisch chinesischen Völkerrechts“, von dem manchmal im Anklang an das sogenannte „sowjetische Völkerrecht“ die Rede ist, hält Wang für unpassend. Den chinesischen Völkerrechtlern obliege zunächst die theoretische Aufarbeitung der Völkerrechtspraxis Chinas. Wang wirkt resigniert und erschöpft. Wie Chen war ihm in seinen besten Jahren ein Berufsverbot auferlegt worden. Zwar musste er nicht wie Chen in der Landwirtschaft arbeiten, sondern konnte sich im Außenministerium mit der Erstellung einer Sammlung der multilateralen Verträge, an denen China beteiligt ist, befassen, war aber von der Völkerrechtslehre abgeschnitten. Immerhin konnte er gemeinsam mit Chen die achte Auflage von Oppenheims „International Law“ übersetzen und Anfang der 1970er Jahre publizieren. Die lange Zeit erzwungener wissenschaftlicher Beschränkung bedrücke ihn aber weniger als die auch im Vergleich zu dem Akademie-Institut miserable finanzielle Ausstattung und die sich darin offenbarende mangelnde öffentliche Wertschätzung völkerrechtlicher Forschung.
Der Vizedekan der juristischen Fakultät der Xi’aner Hochschule und ein Doktorand von Wang Tieya werden in der nächsten Zeit als Stipendiaten am Institut tätig sein. Mit Frau Sheng Yu wurde die Herausgabe einer Sammlung völkerrechtlicher Studien deutscher Autoren in chinesischer Übersetzung vereinbart. Am späten Nachmittag verlassen wir unseren Bungalow wie einen heimatlichen Hafen. Beim Abendessen mit Frau Sheng nebst Mitarbeiter im Flughafenrestaurant wirft sie die Frage auf, ob die Max-Planck-Gesellschaft nicht eine Privatuniversität in Shenzhen errichten wolle. Zu viel für eine letzte Frage.
Vom langen Ende der kurzen Liberalität
Und eine Frage, so lässt sich fast vier Jahrzehnte später hinzufügen, die nur damals aufgeworfen werden konnte und seither nicht wieder. Denn die Erkundungsreise des Instituts fand in der Anfangsphase der Periode von „Öffnung und Reform“ (vor der Zäsur des 4. Juni 1989) statt, als unter „Reform“ auch die Veränderung des politischen Systems in den Blick kommen konnte und sollte. Höhepunkt dieser Entwicklung war der 13.Kongress der Kommunistischen Partei im Oktober 1987, in dessen Umfeld der Rechtsstaatsgedanke über eine verfahrensgebundene Verfügbarkeit des Rechtsystems hinaus als Bindung des Gesetzgebers an bestimmte Qualitätserfordernisse des Rechtsystems wie „Rechte und Freiheiten der Bürger“ angedacht wurde. Für kurze Zeit herrschte eine nie gekannte Meinungs- und Pressefreiheit. „Politische Strukturreform“ sollte Prinzipien der bürgerlichen Verfassung wie Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht länger als „Halluzination“ zurückweisen und tabuisieren, sondern „beispielgebend“ heranziehen.
Diese lebhafteste verfassungspolitische Debatte in der neueren chinesischen Geschichte nahm mit den, aus heutiger Sicht doppelt tragischen, Ereignissen vom Juni 1989 in Peking und in anderen Städten ein jähes Ende. „Politische Strukturreform“ unter Einbezug liberaler Verfassungskonzepte wurde erneut tabuisiert. Zwar wurde zunächst der internationale akademische Austausch in allen Bereichen weiterentwickelt, zahlreiche grenzüberschreitende sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte wurden erfolgreich durchgeführt und die Übersetzung ausländischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Werke nahm einen ständig wachsenden Umfang an, „Reform und Öffnung“ aber konzentrierte sich nun gänzlich auf Fragen der Effizienz des Wirtschaftssystems. Dies umfasste immerhin noch das Bekenntnis zu einer regelbasierten internationalen Ordnung, wie die nun energisch vorangetriebenen Bemühungen, der Welthandelsordnung beizutreten, verdeutlichen. Als der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) Ende 2001 erfolgte, lagen in zahlreichen relevanten Bereichen der Rechtsordnung, besonders auch auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts, die notwendigen Innovationen zwar vor, krankten aber am Mangel einer verwaltungsunabhängigen Gerichtsbarkeit.
Wenn man hoffte, dass die weitere Entwicklung des Lebensstandards, der Druck in- und ausländischer Wirtschaftskreise sowie fortgesetzte Aufklärungsarbeit aus den Reihen der Rechtswissenschaft es mittelfristig auch der chinesischen Führung nicht erlauben werde, sich intensiveren rechtsstaatlichen Reformen zu verschließen, so dürfte diese Hoffnung mit der Übernahme der Spitzenämter des Parteistaats durch Xi Jinping 2012/13 auf lange Sicht enttäuscht worden sein. Xis „Chinesischer Traum vom Wiedererstarken der Nation“ geht einher mit einer zunehmenden Abschottung gegen ausländische Einflüsse. Das scheint so weit zu gehen, dass das Schulfach „Englisch“ von einem Kernfach zu einem Nebenfach degradiert wurde und private Sprachschulen schließen mussten. Nach nur fünf Amtsjahren wurde Xi in der Parteihierarchie auf eine Stufe mit Mao Zedong gestellt: Im Oktober 2017 verankerte der 19. Parteikongress „Xi Jinpings Ideen für das neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung“ als zusätzliche Leitlinie im Parteistatut. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im März 2018 als der Nationale Volkskongress per Verfassungsänderung die 1982 eingeführte Begrenzung des Staatspräsidentenamtes (auf zweimal fünf Jahre) aufhob und dem amtierenden Präsidenten, dem man wie einst Mao den zusätzlichen Titel „Volksführer“ /人民领袖 zuerkannte, so eine potentielle Lebenszeitposition einräumte.
Die Volksrepublik China stellt sich unter Xi als ein Regime dar, das Militär- und Wirtschaftsmacht ohne Demokratie und Moderne ohne Freiheit nicht nur als ihre eigene Lebensform feiert, sondern auch den Anspruch erhebt, ein weltweit gültiges Programm für Stabilität und Wohlstand sowie die Befähigung zu besitzen, in der weltweiten Verwirklichung dieses Programms die Leitung zu übernehmen. „Mit dem chinesischen Modell die Welt leiten“ / 用中国模式引领世界, „Chinesische Führung leitet die Welt“ / 中国之治引领世界, sind gängige Slogans. Sie wurden parallel zu dem Mega-Projekt der „Neuen Seidenstraße“, der Initiative „One belt, one road“ / 一带一路工程 geprägt, dem Vorhaben, Staaten zwischen China und Europa mit einem Netzwerk von Straßen, Eisenbahntrassen, Häfen und Pipelines zu überziehen, nicht ausschließlich, aber weitgehend finanziert und errichtet von chinesischen Banken, Ingenieuren und Arbeitern. Dies nicht nur um Chinas Macht auszuweiten, sondern in der erklärten Absicht, eine neue Weltordnung zu schaffen – eine „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ / 人类命运共同体, wie es in der Präambel der 2018 revidierten Verfassung heißt. Durch Bündnisse mit Ländern des globalen Südens und Zentralasiens sucht China der traditionellen, von westlichen Demokratien geprägten Weltordnung einen alternativen Ordnungsrahmen gegenüberzustellen. So war es an der Zeit, dass die EU im März 2019 in einem Strategiepapier festhielt, dass die Volksrepublik China nicht nur ein „Partner“ sei, sondern auch ein „wirtschaftlicher Konkurrent“ und ein „Systemrivale, der alternative Governance-Modelle propagiert“.
Es ist klar, dass unter solchen, sich zunehmend als totalitär erweisenden Verhältnissen – unbegrenzte Parteiherrschaft, umfassende Sozialkontrolle, aggressiver Nationalismus, Re-ideologisierung – der internationale akademische Austausch und besonders grenzüberschreitende Forschungsprojekte stark beeinträchtigt werden und dass für eine Revitalisierung in absehbarer Zukunft keine oder geringe Aussichten bestehen. Zwar kann man sich dem nicht verschließen, was schon das „Lunyu“, der Basistext des Konfuzianismus, bemerkt: „Geht man unterschiedliche Wege, kann man einander keine Ratschläge erteilen“ / 道不同不相為謀,jedoch sollte die Bereitschaft bestehen, auch und gerade unter schwierigen Bedingungen das Gespräch zu suchen und bewährte Kontakte so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.
[1] Bild: MPIL-Archiv
[2] Bild: MPIL-Archiv
Suggested Citation: Robert Heuser, Zur China-Reise des Instituts im April 1986, MPIL100.de, DOI: 10.17176/20240327-102254-0 |
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Robert Heuser war von 1992 bis 2011 Professor für „Chinesische Rechtskultur“ an der Universität zu Köln. Von 1973 bis 1979 war freier Mitarbeiter, dann wissenschaftlicher Referent für Ostasien am MPIL.
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