In der schier unerschöpflichen Sammlung der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht findet sich unter der Signatur „VR: XVII H: 40“ ein unscheinbares Büchlein von etwa 200 getippten Seiten, teilweise mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen. „Sollte man nicht das Manuskript wegen seines historischen Interesses einbinden und in die Bibliothek geben?“ hat Institutsdirektor Jochen Frowein in einem Begleitschreiben aus dem Jahre 1987 angemerkt und somit der Nachwelt ein einmaliges Zeitdokument erhalten.
Hinter „VR: XVII H: 40“ verbirgt sich das Manuskript einer einstündigen Vorlesung zum Kriegsrecht, die Ernst Schmitz, (1895-1942) im Sommersemester 1938 in zehn Terminen an der Universität zu Berlin gehalten hat. Schmitz, selbst vielfach verwundeter Weltkriegs-Veteran, war 1926 in das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht eingetreten und wurde 1934 dessen stellvertretender Direktor. „Es handelt sich um eine sehr klare Darstellung der Materie am Vorabend des 2. Weltkrieges“ schrieb Hermann Mosler, der das Manuskript 1987 in seinem Heidelberger Büroschrank entdeckte. Nachfolgend möchte ich insbesondere drei Punkte hervorheben: die methodischen Herausforderungen der Analyse einer Kriegsrechtsvorlesung aus dem Jahre 1938 (I.), das darin enthaltene Völkerrechtsverständnis (II.) und schließlich Aussagen zum kriegsrechtlichen Humanitätsprinzip (III.).
I. Der blinde Fleck
Bei der Bewertung geschichtlicher Entwicklungen ist der menschliche Verstand aufgrund seiner kognitiven Strukturiertheit besonders anfällig für den hindsight bias bzw. Rückschaufehler.[1] Insbesondere die sog. Cambridge School mahnt stattdessen zur Kontextualisierung und zeitlichen Verortung der Dokumente, zur Vergegenwärtigung der Kontingenz geschichtlicher Entwicklung.[2] Und doch: Es fällt schwer, bei der Lektüre des Vorlesungsskripts nicht an den 1. September 1939 zu denken – auszublenden, dass Friedrich Hoßbach bereits am 10. November 1937 sein berühmtes „Protokoll“ niedergeschrieben hatte, das als zentrales Beweismittel für Verbrechen gegen den Frieden (Planen, Vorbereitung und Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge) nach Artikel 6 a des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 diente. „Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben“ heißt es dort. Es bleibe einzig „die Beantwortung der Fragen ‚wann‘ und ‚wie‘.“[3] Völkerrechtler*innen denken zwangsläufig an die griechische Ortschaft Distomo und den sogenannten „Sühnebefehl“ des Oberkommandos der Wehrmacht vom Herbst 1941: „Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50-100 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muß die abschreckende Wirkung noch erhöhen.“[4] Schmitz’ „Gedanke an den möglichen Ausbruch eines Krieges in nicht allzuferner Zukunft“ (S. 53b) erscheint hierbei – in Anerkennung des Rückschaufehlers – wie ein Menetekel.
Vor diesem Hintergrund wirkt das Manuskript überraschend sachlich, jedenfalls im Vergleich mit anderen Publikationen aus dieser Zeit, etwa solchen der „Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften“, in welcher Schmitz sich ebenfalls engagierte. Freilich, man merkt dem Manuskript sein Entstehungsjahr an: Auf Seite 12 etwa wird von der „nationalsozialistischen Auffassung von Staat und Volk“ gesprochen. Diese habe zur Folge, dass – entgegen des Rousseau’schen Diktums – „der Krieg nicht nur die Staaten zu Feinden macht, sondern auch alle Personen, aus denen sie sich zusammensetzen“ (S. 10). Nach Schmitz ergebe sich daraus allerdings „nicht, dass alle diese Feinde rechtmässig in der gleichen Weise behandelt werden dürfen“ (S. 13). Ein ähnliches Muster findet sich an anderer Stelle, wo Schmitz von den Kriegen der Zukunft und neuen Waffen, insbesondere der Luftwaffe spricht: „Die Wirkungen des Luftkrieges, das ist richtig, können nicht auf die Angehörigen der Armee beschränkt werden; sie müssen auch die Zivilbevölkerung treffen“ (S. 35). Dennoch ist er kein Anhänger der Lehre des totalen Luftkrieges, wie sie der italienische General Giulio Douhet entwickelt hat (Il domino dell’aria, 1921).[6] Die Kritik wird freilich nur angedeutet: „Gegen diese in ihrer Ausdehnung fast unübersehbaren Möglichkeiten sind auch von militärischer Seite Bedenken erhoben worden wie denn überhaupt die Lehre von Douhet zum Teil sehr scharfe Kritik in Fachkreisen gefunden hat“ (S. 35). Man dürfe daher „nicht den Schluss ziehen, dass […] der Unterschied zwischen den Angehörigen der bewaffneten Macht und der Zivilbevölkerung in jeder Beziehung verschwinden müsse“ (S. 35). Dem Einsatz der Luftwaffe zur Brechung der „moralische[n] Widerstandskraft der Bevölkerung […], wenn diese nämlich planmäßig durch Luftangriffe terrorisiert werde“ (S. 35), erteilt er keine klare Absage. Er weist lediglich in utilitaristisch anmutender Weise darauf hin, dass die „Luftwaffe […] zu kostbar [ist], als dass man sie gegen andere als militärisch wichtige Objekte einsetzen könnte.“ Außerdem sei die „Terrorwirkung von Angriffen auf die Zivilbevölkerung … örtlich beschränkbar, da eine scharfe Pressezensur die Verbreitung der Nachrichten von erfolgreichen Luftbombardements bis zu einem gewissen Grade verhindern kann“ (S. 35). Die Terrorisierung der Zivilbevölkerung aus der Luft erscheint hierdurch militärisch schlicht nicht notwendig. Von humanitären Erwägungen oder kriegsrechtlicher Unzulässigkeit dagegen findet sich kein Wort, doch dazu später mehr.
Der „aggressiv-imperiale Kurs“ des NS-Regimes, auf den das Institut und führende Exponenten desselben sich begeben hatten, ist auffällig abwesend. Es gibt keinerlei Anklänge einer „rassentheoretisch begründete[n] … Verwandlung des Völkerrechts“ und seiner biologistischen Rekonstruktion.[7] Es fehlt überhaupt an der dem Denken der geistig-politischen Epoche gemäßen Sprache.[8] Schmitz’ Vorlesung ist weiterhin in der Sprache des traditionellen Völkerrechts abgefasst. Auch der verschiedentlich verwendete Begriff der (Staaten-)Gemeinschaft erscheint nicht nationalsozialistisch aufgeladen,[9] wie es etwa in Günther Küchenhoffs Abhandlung „Nationaler Gemeinschaftsstaat, Volksrecht und Volksrechtsprechung“ bereits 1934 der Fall war. Schmitz spricht auch an keiner Stelle von einer „Großraumordnung“, die bereits denknotwendig nicht ohne Krieg erschaffen werden kann. Im Gegenteil scheint er am ius ad bellum weiterhin festzuhalten, das Küchenhoff – freilich 1944 – durch ein „völkische[s] Führungsverhältnis[] …bei der Neuordnung Europas“ ersetzen wollte.[10]
Abwesend sind aber nicht nur nationalsozialistische Topoi, sondern Polemisierungen generell. An keiner Stelle wird der Versailler Vertrag mit den, damals auch im akademischen Sprachgebrauch üblichen, Verunglimpfungen versehen, gegen den Völkerbund gehetzt, andere Staaten diskreditiert oder die „Deutschlandfeindlichkeit“ des Völkerrechts seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches gerügt.[11] Ebenfalls abwesend ist Carl Schmitts in „Der Begriff des Politischen“ (1927/1932) entwickelte Freund-Feind-Unterscheidung. An Möglichkeiten hierzu hätte es nicht gemangelt, etwa bei den Ausführungen zur Frage „Was ist Krieg?“ (S. 7 ff.). Hier stützt sich Schmitz, wie auch noch verschiedentlich später in der Vorlesung, auf Carl von Clausewitz’ „vielzitierte[…]und wenig gelesene[…]“ Schrift „Vom Kriege“, die wie Ciceros „inter arma enim silent leges“ bis heute in jeder kriegsrechtlichen Abhandlung wohl mindestens einmal Erwähnung findet. Schmitz ist sich der Stimmen bewusst, die den totalen Krieg als den Krieg der Zukunft erwarten: „total, was die Kräfte anlangt, die eingesetzt werden, um das Kriegsziel zu erreichen, total, was die Objekte angeht, gegen die sich die Kriegshandlungen richten und total, was die Mittel der Kriegführung betrifft“ (S. 33 f.). Möglicherweise findet sich hier sogar eine wohlverborgene Kritik: Clausewitz’ Diktum vom Krieg „als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“ sollte man sich nach Schmitz „gerade heute vor Augen halten, wo allgemein die Neigung besteht, den Krieg der Zukunft als reinen Ausrottungskrieg aufzufassen und die restlose Vernichtung des Gegners als das eigentliche Ziel des Krieges anzusehen, als einen Zustand, der sämtliche Beziehungen zerreisst und zwischen den Kriegführenden einen Zustand absoluter Rechtlosigkeit herbeiführt“ (S. 33). Vor diesem Hintergrund ist Schmitz’ Definition des Krieges als „nur eine vorübergehende Störung der internationalen Ordnung“, nicht deren Aufhebung (S. 32), umso beachtlicher. Denn „[f]ür keinen wäre es möglich, sich durch das Chaos eines solchen Krieges als geordnetes Staatswesen hindurchzuretten“ (S. 33). Hieraus ergibt sich auch die Aufgabe des Kriegsrechts:
„die Ausübung der Gewalt in solchen Formen zu verhindern, die zur Erreichung des Kriegszwecks nicht notwendig sind, sondern nur geeignet, die Kluft zwischen den Kriegführenden zu verbreitern und Hass und Rachegefühle zu wecken und zu erhalten, die auch nach dem Kriegsende fortwirken, ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den Völkern nicht aufkommen lassen und so einen wirklichen Friedenszustand verhindern, der den Krieg ablöst“ (S. 31 f.).
Dies zeigt die jedenfalls indirekte Verschränkung des ius in bello mit dem ius ad bellum. Zu letzterem schreibt Schmitz leider bedauerlich wenig, woraus für die Positionierung seines Kriegsrechtsverständnis wichtige Rückschlüsse hätten gezogen werden können. Fußnoten setzt Schmitz ebenfalls nur spärlich. So aber bleibt ungesagt, was der Rheinländer Schmitz, der von Maria Bruns für sein „Herz und Charakter“ sowie „joviales Wesen“ sehr geschätzt wurde, unter einem „wirklichen Friedenszustand“ versteht. Sicherlich: Ein „Pazifist“, wie etwa die Mitglieder der Gruppe um Walter Schücking und Hans Wehberg, war Schmitz nicht, dafür nimmt er den Krieg zu selbstverständlich als unvermeidbar hin. Aus dem Vorlesungsmanuskript geht aber nicht hervor, dass er den Krieg als „Fundamentalinstitution des Staates“ verherrlicht.[12]
Überhaupt enthält Schmitz‘ Vorlesung keinen theoretischen Unterbau. Nach der maßgeblich unter dem Einfluss von Karl August Eckhardt im Sinne der „nationalsozialistischen Rechtserneuerung“[13] umgestalteten juristischen Studienordnung von 1935 wäre dies eigentlich erforderlich gewesen.[14] Denn in den vorangestellten „Grundgedanken“ der Studienordnung heißt es: „Die deutsche Rechtswissenschaft muß nationalsozialistisch werden. Nationalsozialismus ist kein Lippenbekenntnis, sondern eine Weltanschauung. […] Im geistigen Ringen um neue Werte gibt es keinen besseren Kampfplatz als die Universität.“[15] Sozialdarwinistische Deutungen des Krieges, die sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „rassegesetzlichen Rechtslehre“ angeboten hätten, bleiben aus.[16] Dass Schmitz aus dem Kriegsrecht keinen „nationalsozialistischen Kampfplatz“ macht und nicht von „völkischen Grundlagen der [Völkerrechts]Wissenschaft“ sprach,[17] ist vor diesem Hintergrund durchaus eine Botschaft.
II. Kriegsrecht und Völkerrechtsordnung
Krieg sei „nur ein Teil des politischen Verkehrs“, wie Schmitz unter Bezugnahme auf Clausewitz’ berühmte Beschreibung des Kriegs „als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“ betont (S. 32). Andernfalls bedeutete Krieg Chaos. Ein Chaos, „das herbeizuführen aber eben nicht das Ziel der Politik sein kann; denn es liegt im wohlverstandenen eigenen Interesse eines jeden Staates, der sich nicht selbst aufgeben will, seine Politik auf die Wiederherstellung der internationalen Ordnung zu richten“ (S. 33). Das Kriegsrecht erscheint damit nicht nur als Teil des Völkerrechts – „wenn dies überhaupt gesagt werden muss“ (S. 1) –, sondern gewissermaßen als dessen Notordnung. Diese Selbstverständlichkeit wäre nicht weiter zu erwähnen, ließe sie nicht wertvolle Rückschlüsse auf das allgemeine Völkerrechtsverständnis zu. „Man darf nicht vergessen“, schreibt er auf Seite 41, „dass ja im wesentlichen die Grossmächte die Einhaltung des Völkerrechts garantieren, d.h. durch ihr Zusammenwirken für seine Beobachtung sorgen.“ Dieses „Großmächtevölkerrecht“ mit all seiner Dysfunktionalität entspringt der Tradition des europäischen Mächtekonzerts des 19. Jahrhunderts. Ist dieses aber gespalten, wie etwa politisch-sachlich im Krimkrieg oder politisch-emotional im Ersten Weltkrieg, bedeute dies „eine Erschütterung der Wirksamkeit der Völkerrechtsordnung“ (S. 41). Erst dann erscheine Krieg als bedrohlicher Ausnahmezustand. Ähnlich der Denkweise Otto von Bismarcks sieht Schmitz das größte Übel in der Verallgemeinerung des Krieges, bedeute dies doch „eine gewisse Gefahr für die Einhaltung der Normen des Kriegsrechts“ (S. 41). Diese Verallgemeinerung sei aber „notwendige Folge der Durchführung der kollektiven Sicherheit“, wie sie etwa die Völkerbundsatzung vorsehe. Schmitz steht diesem Mechanismus der Friedenssicherung ablehnend gegenüber: Die „Sanktionskriege“ des Völkerbunds zielten „letzten Endes auf Ausrottung des wirklichen oder angeblichen Rechtsbrechers ab“ (S. 42). Eine argumentative Begründung dieser Behauptung bleibt Schmitz allerdings schuldig. Gleichzeitig unterlässt er aber einen politischen Angriff auf das System kollektiver Sicherheit des Völkerbunds (etwa auf S. 53b), worin Erich Kaufmann bspw. eine „Zementierung der Friedensverträge und des unerwünschten politischen wie territorialen status quo“ sah.[18]
Verbunden mit der Großmächtedeutung des Völkerrechts ist eine realistisch-pragmatische Betrachtungsweise des Kriegsrechts. In Schmitz’ nüchterner Erklärung der Normen, ihres Hintergrunds und ihrer praktischen Relevanz liegt sicherlich die Stärke der Vorlesung, wenngleich aus ihr oft ein gewisses Misstrauen spricht. Kriegsrechtliche Normen reflektieren für ihn staatliches Eigeninteresse. So heißt es etwa zu einem russischen Antrag im Vorfeld des III. Haager Abkommen betreffend den Beginn der Feindseligkeiten (1907), der „eine gewisse Frist zwischen dem Abbruch der Beziehungen und dem Beginn der Feindseligkeiten“ vorsah, wodurch der Friedenszustand der Armee möglichst lange aufrechterhalten und Rüstungsausgaben verringert werden würden: „Es ist deutlich ersichtlich, dass im Hintergrunde dieser Ausführungen die ungünstige Lage Russlands stand, seine Schwierigkeiten geographischer, technischer und finanzieller Natur. Es ist kein Wunder, dass dieser Antrag der Ablehnung verfiel. Denn er bedeutete praktisch, dass man dem besser gerüsteten, technisch fortgeschritteneren Staate untersagen wollte, die Vorteile schnellerer Mobilisierung auszunutzen“ (S. 16).
Eine ähnliche Analyse findet sich bei der Antwort auf die Frage, „ob die Umwandlung von Kauffahrteischiffen in Kriegsschiffe auf hoher See […] oder […] nur in einem Hoheitsgebiet des Heimatstaates zulässig sei“ (S. 93). Großbritannien trat gegen Deutschland für Letzteres ein, weil es so andere Staaten schwächte, in Anbetracht seiner zahlreichen Stützpunkte auf der ganzen Welt jedoch „sehr wohl eine solche Forderung aufstellen konnte, ohne seine Interessen zu beeinträchtigen“ (S. 94). Ähnliches gelte für die Abschaffung der Kaperei. Die Ausstellung von Kaperbriefen ermögliche es einem Staat „mit schwacher Flotte […] die Zahl der Schiffe, die ihm zur wirksamen Durchführung des Seekrieges zur Verfügung standen […] erheblich und schnell zu vermehren“ (S. 95). Großbritannien als damals stärkste Seemacht wurde dieses Instrument, von dem es ursprünglich selbst profitiert hatte, zunehmend ein Dorn im Auge.
Wenn diese Beispiele „verschiedenste[…] Abkommen über alle möglichen Einzelfragen des Kriegsrechts“ betreffen und sich nicht auf eine einheitliche Kodifikation beziehen – heute würden wir von Fragmentierung sprechen –, ist dies nach Schmitz kein Zufall (S. 54a). Denn die für Verhandlungen über generelle Fragen des Kriegsrechts erforderlichen allgemeinen Konferenzen würden nur selten zustande kommen. Zu riskant sei den Staaten der dort eröffnete „Einblick in die operativen Absichten […] im Ernstfalle“. Einmal teilgenommen, sei es nur erschwert möglich, „den Konferenztisch zu verlassen, wenn ihnen die Entwicklung der Verhandlungen mit ihren eigenen Interessen in Widerspruch zu geraten scheint. Sie werden unter Umständen in ihren Zugeständnissen weitergehen müssen als ihre Interessenlage eigentlich zulässt, um nicht das Odium auf sich zu nehmen, dass sie eine ‚Friedenskonferenz‘ zum Scheitern gebracht hätten“ (S. 54b).
Gleichzeitig sei der vertragliche Verzicht „[a]uf ein wirksames Kriegsmittel […] unter Umständen ein Verbrechen am eigenen Volk“ (S. 106). Nur deshalb konnte auf der Haager Konferenz 1899 eine Deklaration angenommen werden, die es für die Dauer von fünf Jahren verbot, „Bomben oder Explosivstoffe aus Ballons oder durch andere ähnliche neue Verfahren abzuwerfen“: innerhalb der Geltungsdauer bestand keine Aussicht, „dass die Luftschiffe und Flugzeuge in dieser Zeitspanne so erhebliche Fortschritte machen würden, dass sie zur Vornahme von Kampfhandlungen in grösserem Umfange verwendbar sein würden“ (S. 111). Neben Befristungen treten uneinheitliche Vertragsparteien, eingeschränkte Geltungsbereiche, Rückausnahmen wie die Allbeteiligungsklausel und Vorbehalte, was die Fragmentierung weiter vorantreibt und „das Kriegsrecht zu den am wenigsten übersichtlichen Materien“ mache (S. 54a). Diese „einzelnen Teile des Kriegsrechts“ dürfen aber „nicht zusammenhanglos nebeneinander gestellt werden“ (S. 4), vielmehr finden sie „ihre Einheit und ihren letzten Sinn im Wesen des Krieges“ (S. 5). Dies ist vor allem der Spielraum, den die „Normen des Kriegsrechts […] jedem einzelnen Staat […] lassen“ müssen, „um seine Kräfte in einer Weise zu entfalten, die ihm ermöglicht, das Endziel des Krieges, die Brechung des feindlichen Willens, zu erreichen“ (S. 54b). Das Kriegsrecht „steht gewissermassen am Rande der militärischen Aktionen, nicht ihre Wirksamkeit störend, sondern nur Auswüchse verbietend“ (S. 189). Als „Schöpfung der Soldaten“ stünden die „lois et coutumes de la guerre” notwendigerweise
„im Einklang mit den militärischen Notwendigkeiten und hinderten nur unwesentlich die Anwendung der Gewalt in dem militärisch als notwendig erkannten Umfang. Weil das Kriegsgewohnheitsrecht aus der Praxis des Krieges heraus wuchs, und ein Bruch dann nicht beachtet zu werden pflegte, wenn militärische Bedenken entgegenstanden, entwickelte sich das Gewohnheitsrecht als ein rein elastisches Recht […] als ein Recht unter Vorbehalt der militärischen Notwendigkeit“ (S. 45)
– unterstrichen durch den Verweis auf Max Hubers Aufsatz „Die kriegsrechtlichen Verträge und die Kriegsraison“ in der Zeitschrift für Völkerrecht aus dem Jahre 1913 – eine der nur sehr spärlich gesetzten Fußnoten. Einem vertraglichen Eingriff seien daher „nur verhältnismässig wenige Punkte“ zugänglich, „bezüglich derer die Interessen aller Staaten gleichliegen“ (S. 54c). Und auch hier sei Wachsamkeit geboten: „Ein Zugeständnis auf dem Gebiete des Kriegsrechts aber, das nur gebracht wird, um einen augenblicklichen politischen Vorteil auf einem anderen Gebiet zu erlangen, ist ausserordentlich bedenklich, weil es fast notwendig zur Verletzung der Vereinbarung im Ernstfalle führen muss“ (S. 106 f.). Kann für „neue Kriegsmittel wie das Unterseeboot und die Luftwaffe“ aber „eine einheitliche Lösung nicht gefunden werden“ lasse dies „für künftige Kriege das Schlimmste befürchten“ (S. 53 f.). Eine beachtliche Conclusio, nicht nur in ihrer Emotionalität. Sie hinterfragt Schmitz’ eigene generalklauselartige Zusammenfassung, „dass geboten und verboten war, was der anständige und ehrliebende und vernünftig handelnde Soldat schon von sich aus tun oder unterlassen würde“ (S. 45) und relativiert sein Bekenntnis zu neuen Kriegsmitteln und Methoden der Kriegsführung als „grundsätzlich zulässig[…], wenn sie allgemein als brauchbare Mittel zur Erreichung des Endzweckes jeden Krieges erkannt worden sind“ (S. 107). Unweigerlich denkt man an den 6. Und 9. August 1945 und begeht damit einen weiteren Rückschaufehler.
III. Der Kampf um die Neutralen und Humanität als Nicht-Prinzip
Der moderne Krieg sei „eine[…] Angelegenheit, die die Interessen aller Staaten berührt“ (S. 2), weshalb der Kampf nicht nur gegen den Feind sondern auch um die „Weltmeinung“ geführt wird, „die im wesentlichen in den neutralen Staaten sich bildet“ (S. 39). Schmitz lehnt deswegen den Totalen Krieg ab, wonach „der Kriegszweck überhaupt nicht mehr zu erreichen sei, wenn irgendwelche rechtlichen Bindungen beständen [sic], die die freie Aktion der militärischen Streitkräfte einschränken“ (S. 33). In der im Kriegsrecht strukturell angelegten Schwäche, dass das Repressalienregime „bis zur völligen Negierung jeder kriegsrechtlichen Regel getrieben werden“ könne (S. 38) sieht er nur eine theoretische Möglichkeit. Die Schranke bestehe nicht in den „Grundsätze[n] der Humanität“ (S. 37). Es sei bereits
„nicht einfach zu bestimmen, was nach allgemeiner Auffassung im Kriege inhuman ist. Vielfach stehen die Auffassungen von Humanität in den einzelnen Staaten in auffallender Parallele zu ihren politischen, militärischen und wehrwirtschaftlichen Gegebenheiten. Ein Staat, dessen Wehrwirtschaft eine längere Kriegsdauer nicht zulässt, wird alle, auch die schärfsten Mittel, für human erklären, die geeignet sind, den Krieg abzukürzen und eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. In anderen Ländern passen sich die Auffassungen darüber, was human und was humanitätswidrig ist, bemerkenswert schnell der jeweiligen politischen Situation an“ (S. 37 f.).
Die Begrenzung finde sich vielmehr in zwei praktischen Erwägungen: zum einen entspreche „ein grosser Teil dieser Normen den Interessen beider Teile in gleicher Weise“, zum anderen müssten „die Repressalien mit ihrer zunehmenden Schärfe notwendigerweise auch die Interessen der Neutralen berühren“ (S. 38). Die Einhaltung des Kriegsrechts beruhe damit „weniger auf irgendwelchen humanitären Erwägungen der Kriegführenden, sondern in erster Linie auf ihren wohlverstandenen eigenen Interessen“ (S. 39). Man kann hier etwa an die Debatte um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg denken, auch wenn Schmitz sie nicht erwähnt. Die Versenkung der Lusitania durch ein deutsches U-Boot war neben dem deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien einer der zentralen Faktoren für den Kriegseintritt der USA.
In jedem Konflikt seien die Kriegführenden abhängig von der „Haltung der Neutralen“. Der Grad der Abhängigkeit ließe sich an der Befolgung des Kriegsrechts ablesen: „Je grösser diese Abhängigkeit ist, desto mehr müssen sie bemüht sein, die öffentliche Meinung der neutralen Staaten nicht gegen sich aufzubringen. Je stärker die politische Macht der Neutralen ist, desto genauer wird das Kriegsrecht auch zwischen Kriegführenden beobachtet werden“ (S. 39). Auch hier wäre der uneingeschränkte U-Boot-Krieg ein passendes Beispiel, hatte das Deutsche Reich doch die Furcht vor einem Kriegseintritt der USA verloren: „In militärischer Hinsicht erachte ich die Stärkung durch den Eintritt der USA in den Krieg auf Seiten unserer Gegner für Null“, hatte Marinestaatssekretär Eduard von Capelle im Reichstag erklärt.[19]
Von der Propaganda inszenierte gegenseitige Rekriminationen seien üblicher Teil dieses Kampfes um die Neutralen und die emotionalisierte Weltmeinung: So habe es seit der Haager Erklärung über das Verbot von Dum-Dum-Geschossen „keinen Krieg gegeben, indem nicht die Gegner sich gegenseitig der Verletzung dieses Verbots beschuldigt hätten“ (S. 109). Zwar „braucht dies nicht immer böswillig gewesen zu sein,“ fährt er reflektiert fort, „da es unter Umständen schwierig ist, aus der Art der Verwundung festzustellen, ob sie von einem Dum-Dumgeschoss herrührt“ oder etwa durch einen Querschläger verursacht wurde (S. 109). Gleichwohl seien insbesondere im Ersten Weltkrieg „die Verletzungen des Kriegsrechts erheblich übertrieben worden und zwar von beiden Seiten, sowohl was die Häufigkeit wie auch was die Schwere der einzelnen Fälle anlangt“ (S. 40). Interessant wäre gewesen, zu wissen, welche „einzelnen Fälle“ Schmitz im Kopf gehabt haben muss und wie er sie bewertet. Die Instrumentalisierung der deutschen Beschießung der Kathedrale von Reims im September 1914 durch die Propaganda beider Seiten hätte sicherlich ein gutes Beispiel geboten.
Zuletzt möchte ich mich dem kriegsrechtlichen Humanitätsgedanken widmen, den Schmitz insbesondere im Abschnitt über verbotene Kriegsmittel behandelt. „Man hat sich seit langem daran gewöhnt, die Regeln der Humanität in Gegensatz zu den militärischen Erfordernissen zu stellen und führt nachgerade alle Verbote der Verwendung gewisser Kampfmittel auf humanitäre Gründe zurück“, schreibt er auf Seite 103. „Ja man geht so weit zu behaupten, das Kriegsrecht sei ein Kompromiss zwischen dem Grundsatz der Effektivität der Kriegführung und dem Prinzip der Humanität. Mir scheint darin eine Uebertreibung zu liegen. Vielfach ist dieser angebliche Gegensatz nur ein scheinbarer, jedenfalls bei den gewohnheitsrechtlich verbotenen Kriegsmitteln“ (S. 105).[21] Denn sei eine Waffe gewohnheitsrechtlich verboten, „dann ist sie auch militärisch wertlos und daher für die Erreichung des Kriegszwecks nicht notwendig“ (S. 104). Nichts anderes gelte aber für das Völkervertragsrecht: „Hier wäre es denkbar, dass ein militärisch wirksames Mittel verboten ist, weil es letzten Endes für die Erreichung des Kriegszwecks sich doch schädlich auswirkt, weil nämlich die Art seines Gebrauches gegen die allgemein anerkannten und unbestrittenen Grundsätze der Menschlichkeit verstösst“ (S. 104). Die schlussendliche militärische Schädlichkeit des Mittels liegt in dem Umstand begründet, dass es „die Neutralen und überhaupt die Weltmeinung gegen den Kriegführenden mobilisiert […] und es so in seinen politischen Auswirkungen den militärischen Erfolg paralysiert“ (S. 104). Mit dieser Auffassung steht Schmitz in der traditionellen preußisch-deutschen Schule des Kriegsrechts.[22]
Als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gebiete der Krieg demnach, „die Wirksamkeit eines Kriegsmittels nicht nach dem unmittelbaren militärischen Erfolg allein [zu] beurteilen“. Vertragliche Verbote erschienen also nur dem als Beschränkung, „dem die Uebersicht über das Ganze des Kriegsgeschehens fehlt“ (S. 104). In Anwendung dieser Grundsätze entnimmt Schmitz Artikel 23 e HLKO den von ihm positiv umformulierten Grundsatz, „dass alle die Kriegsmittel erlaubt sind, die notwendig erscheinen zur Erreichung des Kriegszwecks“ (S. 103). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Schmitz’ Bezugnahme auf die – von ihm nicht so bezeichnete – Martens’sche Klausel. Im modernen Verständnis wird ihr eine lückenschließende Auffangfunktion nach den Grundsätzen der Humanität zugeschrieben.[23] Die „Präambel zum 4. Haager Abkommen“, die die Klausel enthält, stelle nur klar, dass die „gewohnheitsrechtlichen Verbote […], soweit sie nicht noch einmal vertraglich […] festgelegt worden sind, neben dem Vertragsrecht weiter[gelten]“ (S. 102). Die bis heute diskutierten Punkte „Gesetze der Menschlichkeit“ und „Forderungen des öffentlichen Gewissens“ würdigt er mit keinem Wort. Folgerichtig stellt er das Verbot vergifteter Waffen in Artikel 23 a HLKO nicht als durch den Humanitätsgedankens bedingt dar, sondern als Konsequenz ihrer militärischen Wertlosigkeit. Da diese somit nur überflüssige, also militärisch nicht notwendige Leiden hervorriefen, handele es sich „nur um einen Unterfall des allgemeinen Verbots in Art. 23 e“ (S. 109 f.). Selbst Gift, als vermeintlich klarstes Beispiel eines inhumanen Mittels, sei wegen seines militärischen Risikos verboten:
„Man kann natürlich sehr wohl sagen, dass der Gebrauch von Gift unmoralisch sei, eine Perfidie darstelle und deswegen auch rechtlich nicht gestattet sei. Wenn man aber einmal fragt, an welche Art der Verwendung von Gift gedacht ist, nämlich an Vergiftung von Nahrungsmitteln, Wasserquellen, Brunnen usw., so kommt man zu einem anderen Ergebnis. Derartige Vergiftungen wirken sich unter Umständen gegen die eigenen Truppen aus, die die Wechselfälle des Krieges vielleicht gerade wieder auf die Benutzung z.B. vergifteter Quellen anweisen. Es besteht ausserdem die Gefahr, dass andere eigene Truppenteile diese Quellen benutzen, Truppen, denen die Vergiftung nicht bekannt ist und im Durcheinander eines Bewegungskrieges auch nicht bekanntgemacht werden konnte, zumal aufgestellte Warnungstafeln nicht davor sicher sind, entfernt zu werden.“ (S. 105 f.)
Ähnliche Überlegungen finden sich zum Verbot bakterieller Waffen, die offensichtlich „ein zweischneidiges Schwert“ darstellten (S. 112). Für verbotene Methoden der Kriegsführung gelte derselbe Maßstab. Die Beschießung unverteidigter Städte sei offensichtlich militärisch nicht notwendig und daher nachvollziehbarerweise zu verbieten. Das Plünderungsverbot, um eine weitere verbotene Methode zu nennen, beruhe darüber hinaus „vor allem auf der Erfahrung, dass nichts die Disziplin einer Truppe mehr untergräbt als die Erlaubnis zum Plündern nach gewonnener Schlacht, gerade in einem Augenblick, wo es darauf ankommt, die durcheinandergekommenen Verbände wieder zu ordnen und die Vorbereitungen zur Abwehr von Gegenangriffen zu treffen“ (S. 127).
Das Humanitätsargument sei vor allem ein Instrument der Schwachen. So habe Frankreich beispielsweise den deutschen Einsatz von Flammenwerfern als humanitätswidrig bezeichnet, „was sie und ihre Verbündeten allerdings nicht gehindert hat, die Konstruktion ähnlicher Apparate wenigstens zu versuchen“ (S. 110). Auch den Einsatz von Kampfgasen im Ersten Weltkrieg – der wohl stärkste Kandidat für das Prädikat eines inhumanen Kriegsmittels – hält Schmitz für unproblematisch. Denn Haager Erklärung, betreffend das Verbot der Verwendung von Geschossen mit erstickenden oder giftigen Gasen von 1899 beziehe sich ihrem Wortlaut nach nur auf „Geschosse … deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten.“ Zum Einsatz kam aber das sogenannte „Blasverfahren …, mittels dessen aus feststehenden Behältern die gaserzeugenden Stoffe abgeblasen wurden“ (S. 113). Im Übrigen wäre der Einsatz von Geschossen, die neben der Verbreitung erstickender oder vergiftender Gase auch eine Splitterwirkung hatten, nicht verboten war“ (S. 113) ebenfalls nicht verboten gewesen. Der sich aufdrängende Gedanke der Humanitätswidrigkeit wird nicht erwähnt: es handle sich um ein wirksames Kriegsmittel weshalb „die Schäden, die dadurch herbeigeführt werden, […] nicht als überflüssig im Sinne dieser Bestimmung [Art. 23 e HLKO] zu betrachten sind“ (S. 113). Dies zeige insbesondere die Anwendung des Repressalienregimes im Falle des Gaskrieges:
„Während aber bei einer Verletzung der sonstigen Verbote von Kriegsmitteln der zuerst von ihnen Betroffene wegen ihrer mangelnden militärischen Wirksamkeit davon absehen wird, seinerseits nunmehr diese Kampfmittel auch zu benutzen und es vorziehen wird, das Verhalten des Gegners propagandistisch zu seinen Gunsten auszuwerten, im übrigen aber wirksamere Repressalien ergreifen wird, wird dies bei der Verwendung von Gas nicht der Fall sein, falls der zunächst Geschädigte seinerseits die nötigen Vorbereitungen für den Gaskrieg getroffen hat“ (S. 117).
Für die Fortgeltung dieses Gedankens nach Inkrafttreten des Genfer Protokolls über den Gaskrieg zieht Schmitz die Vorbehalte Frankreichs heran, die ein Gegenseitigkeitsprinzip sowie eine Allbeteiligungsklausel enthalten (S. 58).
Wendungen wie Lassa Oppenheim’s Feststellungen, „the influence of the principle of humanity has been and is still enormous upon the practice of warfare” oder “the methods of warfare … become less cruel and more humane every day”, sucht man bei Schmitz vergebens.[25] Die Konstruktion des Humanitätsbegriffs als Nicht-Prinzip entspricht der deutschen Tradition.[26] Diese fand darüber hinaus auch Eingang in das positive Völkerrecht der europäischen Großmächte. Sie bestimmt etwa die Präambel der Petersburger Erklärung von 1868, dass der Gebrauch von Explosivgeschossen unter 400 Gramm nur deswegen der „den Gesetzen der Humanität zuwiderliefe“, weil sie „unnötigerweise die Leiden der außer Kampf Gesetzten erhöhen oder ihren Tod unvermeidlich machen würden“ und damit schon militärisch unnötig sind. Indem Schmitz zwischen den beiden Prinzipien bereits keinen Kompromiss erblickt, bleiben ihm argumentative Umwege, wie sie etwa JM Spaight 1911 gehen musste, erspart. Der britische Beamte im Air Ministry ging von einem Kompromiss aus, stellte aber sofort klar, dass die militärische Notwendigkeit – „for war is war“ – „the more powerful interest of the two“ sei.[27]
Schluss
Was ist nun von dieser Vorlesung zu halten? Das Manuskript ist Dank der Fachkunde und des didaktischen Talents seines Verfassers gut lesbar und leicht verständlich. Auf der einen Seite liest man seltsam Vertrautes, sowohl was Grundprinzipien als auch strukturelle Schwächen des heute als humanitäres Völkerrecht bezeichneten Rechtsgebiets angeht. Beachtlich ist, dass die Vorlesung auch im Jahre 1938, als der Umbau der Universitäten längst abgeschlossen war, weiterhin in der Sprache des traditionellen Völkerrechts abgefasst ist. Gerade vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung des Krieges als „Erschütterung der internationalen Beziehungen“ (S. 2), also als durchaus pathologischen Zustand, bemerkenswert. Die Einhaltung des Kriegsrechts dient nicht nur der Rückkehr zum Frieden, sondern der „Wiederherstellung der internationalen Ordnung“ (S. 33). „Recht“ im Sinne der voll verwirklichten NS-Ideologie dagegen ist nichts anderes als ein „Instrumentarium selbsterzeugter Notwendigkeiten, … Ausdruck einer Geisteshaltung, der die rücksichtslose Selbstentfaltung des deutschen Volkes im Sinne Hitlers oberstes Gebot war.“[28] Keinem Staat wäre es möglich, warnt Schmitz zurückhaltend, „sich durch das Chaos eines [totalen] Krieges als geordnetes Staatswesen hindurchzuretten“ (S. 33).
Auf der anderen Seite stellen sich bei der Lektüre doch gewisse Störgefühle ein, so anachronistisch sie auch sein mögen. Sie ruft uns unbewusst in Erinnerung, dass das dem Denken des 19. Jahrhunderts verhaftete Kriegsrecht und das moderne humanitäre Völkerrecht mehr trennt als die Bezeichnung. Kriegsrecht schützt wohlverstandene Staatsinteressen – Lasson verwendet hier die Figur des „klugen Egoismus“ –[29] und in einer gewissen Weise die staatszentrierte Völkerrechtsordnung selbst. Dem Individuum dagegen weist es kaum einen eigenen Platz zu. Es ist nicht nur das von Schmitz negierte Humanitätsprinzip, es ist die „Human Dimension of International Law“ (Cassesse) generell, die fehlt. Ohne sie klingen Aufgabenzuweisungen an den Krieg als Diener „der Neuordnung der Staatengemeinschaft in rechtlichen Formen, die allein das erneute friedliche Zusammenleben der Völker möglich machen“ (S. 189) seltsam hohl. Die Vorlesung zeigt aber auch, wie berechtigt das Anliegen einer „Humanization of International Law“ (Meron) ist.
[1] Aroop Mukharji/Richard Zeckhauser, Bound to Happen: Explanation Bias in Historical Analysis, Journal of Applied History 1 (2019), 5–27.
[2] James Tully (Hrsg.), Meaning and Context: Quentin Skinner and His Critics, Princeton: Princeton University Press 1989.
[3] Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937 von 16.15-20.30 Uhr, “Hoßbach-Protokoll”, in: 100(0) Schlüsseldokumente.
[4] Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Band 2, Nürnberg: Delphin Verlag 1946, 487-488.
[5] Foto: MPIL.
[6] Siehe hierzu, im Detail: Enno Mensching, Luftkrieg und Recht, Baden-Baden: Nomos 2022.
[7] Dan Diner, Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialistischen Weltordnung, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), 23–56.
[8] Entnommen aus: Ernst Forsthoff, Besprechung von: Otto Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, Juristische Wochenschrift 63 (1934), 538.
[9] Siehe hierzu: Michael Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), 16–38.
[10] Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, ZaöRV12 (1944), 34–82, 48.
[11] Diner (Fn. 7), 28; Manfred Messerschmidt, Revision, Neue Ordnung, Krieg. Akzente der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland 1933–1945, Militärgeschichtliche Zeitschrift 9 (2014), 61–95, 68; Für ein historisches Beispiel siehe: Carl Bilfinger, Streit um das Völkerrecht, ZaöRV 12 (1944), 1–33.
[12] Adolf Lasson, Das Culturideal und der Krieg, Berlin: W. Moeser 1868, 18.
[13] Ralf Frassek, Juristenausbildung im Nationalsozialismus, Kritische Justiz 37 (2004), 85-96, 87.
[14] Siehe hierzu auch: Diner (Fn. 7), 27.
[15] Zitiert bei: Frassek (Fn. 13), 89.
[16] Messerschmidt (Fn. 11), 65.
[17] Zitiert bei: Karl Kaltenborn, Der Kampf gegen das alte Recht: Die juristische Ausbildung im Nationalsozialismus, Göttinger Rechtszeitschrift (Sonderausgabe 2023) 30–35, 31.
[18] Frank Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880-1972), Baden-Baden: Nomos 2008, 80.
[19] Dirk Hempel, Als deutsche U-Boote Handelsschiffe versenkten, NDR.de, 30.1.2017.
[20] Foto: Wikimedia Commons.
[21] Siehe zu diesem Kompromiss, statt vieler: Geoffrey Best, World War Two and the Law of War, Review of International Studies 7 (1981), 67-78, 67: „[The law of war] offers mediation between the demands of on the one hand Humanity, on the other Military Necessity”.
[22] Siehe hierzu, umfassend: Raphael Schäfer, Humanität als Vehikel. Der Diskurs um die Kodifikation des Kriegsrechts im Gleichgewichtssystem des europäischen Völkerrechts in den formgebenden Jahren von 1856 bis 1874, Baden-Baden: Nomos 2025.
[23] Theodor Meron, The Martens Clause, Principles of Humanity, and Dictates of Public Conscience, AJIL94 (2000), 78-89, 88.
[24] Foto: BArch, Bild 183-F0313-0208-007/CC-BY-SA 3.0.
[25] Lassa Oppenheim, International Law. A Treatise, Bd. II: War and Neutrality, 2. Aufl., London: Longmans, Green & Co. 1912, 79.
[26] Siehe hierzu: Mathias Schmoeckel/Christophe Wampach, L’humanisation du droit de la guerre: Une utopie combattue par la doctrine allemande?, Clio@Themis Revue électronique d’histoire du droit, November 2016.
[27] James Molony Spaight, War Rights on Land, London: Macmillan 1911, 75.
[28] Messerschmidt (Fn. 11), 95.
[29] Adolf Lasson, Princip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin: Wilhelm Hertz 1871, 42.
Raphael Schäfer ist Referent am MPIL.