Schlagwort: persönliche Erinnerungen

Mein Aufenthalt am MPIL: Der Beginn einer Weltreise

My Stay at the MPIL: The Beginning of a World Journey

Deutsch

Als ich im Sommer 1991 aus meiner Heimat Südafrika nach Deutschland kam, gab es große Veränderungen im Land, in der Region und in der Welt. Es war die Zeit kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, des Zusammenbruchs der ehemaligen Sowjetunion, der Invasion Kuwaits durch den Irak und des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Es war auch eine Zeit großer Veränderungen und Herausforderungen in Südafrika, als sich das Land auf seine ersten demokratischen Wahlen und den Übergang von der weißen Minderheitsregierung zur konstitutionellen Demokratie vorbereitete.

Es war für mich aber auch eine Zeit eigenen intellektuellen Wandels, nachdem ich an das Institut (damals noch in der Berliner Straße untergebracht) gekommen war, um für meine Doktorarbeit über die Bedeutung des deutschen Sozialstaatsprinzips für die künftige südafrikanische Verfassung zu forschen. Während in den 1980er Jahren mehrere südafrikanische Wissenschaftler am Institut tätig waren, war ich zu dieser Zeit eine der wenigen südafrikanischen Wissenschaftlerinnen, die die Gelegenheit zu einem Forschungsaufenthalt hatten. Ich war erst 23 Jahre alt und hatte gerade mein Jurastudium in Freistaat in Südafrika abgeschlossen. Für mich waren die fast zwei Jahre am Institut von Spätsommer 1991 bis zum Frühjahr 1993 prägend – und ein Quantensprung in meiner intellektuellen Entwicklung, der sich letztlich entscheidend auf meinen beruflichen Werdegang auswirkte.

Deutsche erklären die Welt? Einblicke in die Diskussions- und Wissenschaftskultur am MPIL der 1990er

Mehrheitlich Männer. Referentenbesprechung in der Berliner Straße 1985

Da ich von einer kleinen, regionalen juristischen Fakultät in Südafrika kam, zu einer Zeit, als das Land aufgrund der Apartheidpolitik politisch noch sehr isoliert war und der akademische Austausch und das kritische Denken dort auf viele Hindernisse stießen, ist es nicht verwunderlich, dass ich meine Heidelberger Umgebung anfangs als einschüchternd und befreiend zugleich empfand. Meine deutschen Sprachkenntnisse waren damals noch sehr begrenzt (im Wesentlichen erworben während zweier intensiver Studienmonate im Sommer 1991 am Goethe-Institut in Schwäbisch Hall) und reichten noch nicht aus, um schwierige deutsche Rechtstexte zu lesen. Auch auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung, des Völkerrechts und des Auftretens auf der internationalen akademischen Bühne klafften große Wissens- und Erfahrungslücken. Es konnte daher einschüchternd sein, mit gut ausgebildeten und oft weit gereisten und kultivierten (damals überwiegend männlichen) wissenschaftlichen Mitarbeitenden über eine Vielzahl von rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen zu diskutieren.

Manchmal allerdings wünschte ich mir sogar, dass diese Kollegen eher bereit wären, unvoreingenommen zuzuhören, statt sich gleich über hochkomplexe politische und juristische Zusammenhänge in fernen Ländern – mit denen sie persönlich nur wenig Erfahrung hatten – zu äußern, so belesen sie auch zu einem bestimmten Thema sein mochten. Gleichzeitig war es befreiend, sich in einem Umfeld zu befinden, in dem eine fundierte Debatte eine Selbstverständlichkeit war. Darüber hinaus waren diese Diskussionen wichtig, um zu lernen, sich zu behaupten – oft als einzige Frau in der Gruppe (zu einer Zeit, als es kaum ein Bewusstsein für die unbewussten Vorurteile gab, die mit solchen Konstellationen einhergehen) – und dazu in einer Fremdsprache. Darüber hinaus wurde das Bewusstsein dafür geschärft, wie wichtig eine solide Debatte in Verbindung mit Toleranz (einschließlich der Bereitschaft aufmerksam zuzuhören) ist, um eine nuancierte, ausgewogene und tiefgründige akademische Forschung zu fördern. Diese aus meiner Sicht unerlässliche Qualität ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags leider zunehmend eine Seltenheit auch an vielen intellektuellen Elite-Institutionen geworden, unter anderem aufgrund des zerstörerischen Einflusses der sozialen Medien, die darauf abzielen, zu polarisieren und zu ‚canceln‘ und damit die Grundlagen der akademischen Freiheit und des demokratischen Diskurses zu untergraben.

Eine lebenslange Verbindung. Der bleibende Einfluss des MPIL

Legendäre Buchbestände. Bibliothekarin Marlies Bornträger 1985 (Foto: MPIL)

Wichtig war für mich damals die enge soziale Interaktion mit den wissenschaftlichen Mitarbeitenden und einem ganz allgemein sehr unterstützenden Umfeld, wozu auch die damaligen Direktoren beitrugen. Zu dieser Zeit wurde das Institut von Jochen Abr. Frowein und dem mittlerweile verstorbenen Rudolf Bernhardt geleitet. Es gab auch eine kurze Überschneidung mit Rüdiger Wolfrum vor meiner Abreise im Jahr 1993, als er die Nachfolge von Rudolf Bernhardt als Direktor des Instituts antrat. Sowohl Jochen Frowein als auch Rüdiger Wolfrum blieben sehr interessiert an meiner Karriere und unterstützten sie. Zum Beispiel hatte ich nach der Unabhängigkeit des Südsudan im Jahr 2011 die Gelegenheit, mit Rüdiger Wolfrum und seinem Team bei der Beratung zur Verfassungsreform im Südsudan und später auch Sudan zusammenzuarbeiten und dabei auch auf die Erfahrungen Südafrikas in den 1990er Jahren zurückzugreifen.  Als große Ehre habe ich empfunden, dass ich im Jahr 2020 (zusammen mit Kathrin Maria Scherr) die Herausgeberschaft des Max Planck Yearbook of United Nations Law (UNYB) übernehmen durfte, welches im Jahre 1997 von Jochen Frowein und Rüdiger Wolfrum begründet worden war. Der Einfluss ihrer Forschung auf meine eigene Arbeit und die herausragende Rolle des Völkerrechts in der Arbeit des Instituts im Allgemeinen führten ferner dazu, dass sich mein Hauptforschungsinteresse im Laufe der neunziger Jahre vom vergleichenden Verfassungsrecht zum Völkerrecht verlagerte.

Ein weiterer einzigartiger Aspekt des Instituts war und ist der legendäre Bibliotheksbestand, sowohl in Bezug auf das vergleichende öffentliche Recht als auch auf das Völkerrecht. Wissenschaftler (sowohl junge als auch etablierte) aus ganz Europa und darüber hinaus besuchten die Bibliothek vor allem in den Sommermonaten, was zu einer sehr lebendigen Gemeinschaft von Wissenschaftlern des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts führte, die zu dieser Zeit wahrscheinlich einzigartig in Europa war. Der sich daraus ergebende Austausch versorgte auch das akademische Personal des Instituts mit einer Fülle von Informationen, die sowohl für die eigene Forschung als auch für die Arbeit des Instituts insgesamt relevant waren. Der Wissenstransfer, der in und um die Bibliothek herum stattfand, war also eine Zweibahnstraße und von grundlegender Bedeutung zu einer Zeit, als es noch kaum digitale Ressourcen und Kommunikation gab. Für mich persönlich war es auch ein Anstoß, weitere internationale Erfahrungen zu sammeln und neue Horizonte zu erkunden. Ich hatte auch das große Glück, Matthias Herdegen, ehemaliger Referent am Institut und damals Professor an der Universität Konstanz, kennenzulernen. Wegen sein Interesse an den verfassungsrechtlichen Entwicklungen in Südafrika nahm er Kontakt zu mir auf und der Austausch entwickelte sich zu einer nachhaltigen, bis heute andauernde Zusammenarbeit.

Es fiel mir sehr schwer, Heidelberg im Frühjahr 1993 zu verlassen, aber ich hatte das große Glück, die Verbindung zum Institut und zur Stadt in den folgenden Jahren aufrechtzuerhalten, sei es durch anschließende Forschungsaufenthalte, die von der Alexander‑von‑Humboldt‑Stiftung gefördert wurden, oder durch die Teilnahme an einer Reihe von wissenschaftlichen Veranstaltungen und persönlichen Kontakten die sich bis heute gehalten haben. In den letzten Jahren hat sich meine Verbundenheit auch auf die von Rüdiger Wolfrum 2013, nach seiner Emeritierung als Direktor am Institut, gegründete Max‑Planck‑Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit ausgeweitet, deren Projekte zur Verfassungsreform global Anerkennung gefunden haben. Durch meine Tätigkeit im Scientific and Development Policy Advisory Committee und als Mitherausgeberin des UNYB, das nun unter der Leitung der Stiftung herausgegeben wird, konnte ich eine Verbindung zur Max‑Planck‑Community aufrechterhalten. Diese langjährige Verbindung ist seit über dreißig Jahren eine Bereicherung, welche ich auch in Zukunft zu pflegen versuchen werde.

English

When I came to Germany from my country of origin South Africa in the summer of 1991, there were major changes in the country, the region, and the world. It was the time shortly after German reunification, the collapse of the former Soviet Union, the invasion of Kuwait by Iraq, and the war in the former Yugoslavia. It was also a time of great change and challenges in South Africa as the country prepared for its first democratic elections and the transition from white minority rule to constitutional democracy.

But it was also a time of my own personal intellectual transformation after coming to the Institute (at the time, still housed in Berliner Straße) to do research for my doctoral thesis on the significance of the German Sozialstaatsprinzip (“welfare state principle”) for the future South African constitution. While there had been several South African scholars working at the Institute in the 1980s, during the early 1990s I was one of few South African academics who had the opportunity for a research visit in Heidelberg. I was only 23 years old and had just completed my law degree in Free State, South Africa. For me, the almost two years at the Institute from late summer 1991 to spring 1993 were formative – and a quantum leap in my intellectual development, which ultimately had a decisive impact on my professional career.

Germans Explaining the World? Insights into the Scientific and Discursive Culture at the MPIL in the 1990s

Men in the majority. “Referentenbesprechung” in the institute building in Berliner Straße in 1985 (photo: MPIL)

Coming from a small, regional law faculty in South Africa, at a time when the country was still very isolated politically due to apartheid and academic exchange and critical thinking in South African society faced many obstacles, it is not surprising that I initially found my Heidelberg environment simultaneously intimidating and liberating. My German language skills were still very limited (mainly acquired during two months of intensive study at the Goethe Institute in Schwäbisch Hall in the summer of 1991) and were not yet sufficient to read difficult German legal texts. There were also large gaps in my knowledge and experience in the fields of comparative law, international law, and on how to handle oneself in the environment of international academia. It could therefore be intimidating to discuss a wide range of legal and social issues with the well-educated, often well-travelled and cultured (and at that time predominantly male) academic staff.

Sometimes, however, I did wish that these colleagues would have been more willing to listen with an open mind instead of immediately commenting on highly complex political and legal issues in distant countries – with which they had little personal experience – however well‑read they might have been on a particular topic. At the same time, it was liberating to be in an environment where informed debate was a matter of course. Moreover, these discussions were important for learning to assert myself – often as the only woman in the group (at a time when there was little awareness of the unconscious bias associated with such constellations) – and in a foreign language. Furthermore, my awareness was raised for the importance of robust debate combined with tolerance (including a willingness to listen carefully) to promote nuanced, balanced, and deep academic research. This, in my view, essential quality has, at the time of writing, sadly become increasingly rare even at many elite scholarly institutions, in part due to the destructive influence of social media, which aims to polarise and ‘cancel’, undermining the foundations of academic freedom and democratic discourse.

A Lifelong Connection. The Lasting Influence of the MPIL

Legendary libary collection. Librarian Marlies Bornträger in 1985 (Photo: MPIL)

Of great significance to me at the time was the close social interaction with the scientific staff and a generally very supportive environment, which was also contributed to by the directors. At the time, the institute was headed by Jochen Abr. Frowein and the late Rudolf Bernhardt. There was also a brief overlap with Rüdiger Wolfrum before my departure in 1993, when he succeeded Rudolf Bernhardt as Director of the Institute. Both Jochen Frowein and Rüdiger Wolfrum remained very interested in and supportive of my career. For example, after the independence of South Sudan in 2011, I had the opportunity to work with Rüdiger Wolfrum and his team in advising on constitutional reform in South Sudan and later Sudan, drawing on South Africa’s experience in the 1990s.  It was a great honour for me to take over the editorship of the Max Planck Yearbook of United Nations Law (UNYB) in 2020 (together with Kathrin Maria Scherr), which had been founded in 1997 by Jochen Frowein and Rüdiger Wolfrum. The influence of their research on my own work and the prominent role of international law in the work of the Institute in general also led to my main research interest shifting from comparative constitutional law to international law over the course of the 1990s.

Another unique aspect of the institute was and is its legendary library collection, both in terms of comparative public law and international law. Researchers (young as well as established) from all over Europe and beyond visited the library, especially during the summer months, resulting in a very lively community of scholars of public law and international law, probably unique in Europe at the time. The ensuing exchange also provided the Institute’s academic staff with a wealth of information that was relevant both for their own research and for the work of the Institute as a whole. The transfer of knowledge that took place in and around the library was therefore a two-way street and of fundamental importance at a time when digital resources and communication were scarce. For me personally, it was also an impetus to gain further international experience and explore new horizons. I was also very fortunate to meet Matthias Herdegen, former research fellow at the Institute and at the time Professor at the University of Konstanz. He established contact due to his interest in the constitutional developments in South Africa and our exchange developed into a lasting collaboration that continues to this day.

Leaving Heidelberg in the spring of 1993 was difficult for me, but I was very fortunate to maintain my connection to the Institute and the city in the years that followed, through subsequent research stays funded by the Alexander von Humboldt Foundation and participation in several academic events, as well as via personal contacts that have lasted to this day. In recent years, my ties have also extended to the Max Planck Foundation for International Peace and the Rule of Law, which was founded by Rüdiger Wolfrum in 2013 after his retirement as Director of the institute and whose projects on constitutional reform have received global recognition. Through my work on the Scientific and Development Policy Advisory Committee and as co-editor in chief of the UNYB, which is now published under the auspices of the Foundation, I have been able to maintain a link with the Max Planck community. This long-standing connection has been an enrichment for over thirty years, and I will endeavour to maintain it in the future.

 

Translation from the German original: Sarah Gebel

„Eine Stelle am MPI lässt man nicht verfallen“ Oder: Eine kleine Hommage an Professor Karl Doehring

Meine Zeit am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) in Heidelberg war kurz bemessen, sie währte nur ein halbes Jahr, zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1978. Diese interessante Zeit habe ich Professor Karl Doehring zu verdanken.

Professor Doehring war mir ein langjähriger wertvoller und liebenswerter Mentor. Seine Rolle bei einigen Weichenstellungen meines Lebens ist maßgeblich. Ohne sein Interesse an mir und sein Engagement hätte sich mein Leben anders gestaltet; es wäre ärmer gewesen und hätte mir – last but not least – wohl auch nicht den (ein wenig scheue ich mich, dies in diesem Zusammenhang zu erwähnen, muss dies der Ehrlichkeit halber dennoch tun) wirtschaftlichen Erfolg geschenkt, den ich erfahren durfte. Karl Doehring war Staats‑, Verwaltungs‑ und von Herzen besonders auch Völkerrechtler. Seine 2008 unter dem Titel Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union erschienenen Erinnerungen[1] sind, auch für Nichtjuristen, höchst lesenswert. Sein Schicksal als Jugendlicher und junger Mann (samt Gestapo-Verfolgung und frühem Tod des Vaters, samt Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft) ist beklemmend, seine Lebensleistung beeindruckend. Bernd Rüthers, der mit seinen Forschungen und Schriften zur Rechtsbeugung im Dritten Reich und zum „Entarteten Recht“ einen unverzichtbaren Beitrag zur Enthüllung und Aufarbeitung dieses Unrechtsstaats geleistet hat, bezeichnet Doehring in seiner Rezension des Memoirenbandes als „eine[n] der bedeutendsten Universitätslehrer des öffentlichen Rechts der Bundesrepublik“.

Karl Doehring in den 1980ern (Foto: MPIL)

Hier ist nicht der Ort und mir steht es nicht zu, die wissenschaftliche Leistung von Karl Doehring zu würdigen. Es geht mir um seine Bedeutung als Mentor, um seine menschliche Seite; im Übrigen habe ich später keinen öffentlich-rechtlichen, sondern einen zivilistischen Berufsweg eingeschlagen. Ich lernte Professor Doehring in seinen Vorlesungen zum Verfassungsrecht und zum Völkerrecht an der Universität Heidelberg kennen, schon ab dem zweiten Semester, meinem ersten Semester in Heidelberg. Und sogleich beeindruckte, faszinierte er mich. Zu einer Zeit, als andere Professoren noch Semester für Semester einfach ihr Skript, sorry: ablasen, hielt er seine Lehrveranstaltungen bereits nach der socratic method, die ich später in den USA, an der Cornell University, so immens und intensiv zu schätzen lernte: Ohne Verzicht auf Wissensvermittlung steht hierbei der Dialog mit den Studenten im Vordergrund. Durch seine Lebensgeschichte geprägt (sein Vater war in der NS-Zeit politisch verfolgt, er selbst konnte wegen Reichsarbeitsdienst, Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft erst elf Jahre nach dem vorgezogenen Abitur sein Jurastudium aufnehmen) war Karl Doehring ein Verfechter der freien Rede. Nicht nur, dass er ein begnadeter Rhetor mit vollvolumiger Stimme war, er war auch ein Ur-Liberaler, der sich durch große Toleranz und stete Diskussionsbereitschaft auszeichnete. Freiheit im Leben und Denken waren ihm Lebensmaxime. Tragisch empfand ich, dass gerade er in der wilden Zeit von SDS und SPK, während der er sich – anders als die meisten seiner Kollegen – dem Dialog und der Diskussion stellte, mit Megaphonen überschrien wurde. Genauso tragisch wie traurig empfand ich dann allerdings auch seine durch diese Erfahrungen, wohl durch seine Wahrnehmung der Ereignisse in den Jahren 1968 ff., sich entwickelnde Verhärtung. Die Grenzen seiner Toleranz wurden enger und traten deutlicher hervor. Diesen Einstellungswandel teilte er allerdings mit anderen Hochschullehrern, in Heidelberg und in der Bundesrepublik überhaupt.

Auch poetisch tätig: Karl Doehring reagiert auf Eierwurf 1969 in der Rhein-Neckar-Zeitung

Doch nun zur Bedeutung von Professor Doehring für mich persönlich. Am Ende einer Vorlesung sprach er mich an, ob ich nicht als Wissenschaftliche Hilfskraft, als „HiWi“, an seinem Lehrstuhl tätig sein wolle; ich hatte wohl während der Vorlesung eine nicht gänzlich dumme Frage gestellt oder Antwort gegeben. Mit Freude nahm ich das Angebot an. Meine Tätigkeit bedeutete die Wahrnehmung von einfachen Rechercheaufträgen und ein wenig administrative Mithilfe. In eher leidvoller Erinnerung ist mir allerdings, dass den Assistenten und HiWis von Professor Doehring bereits am späteren Vormittag in täglich‑netter Runde im Fakultätsseminar ein Gläschen Schnaps zum Verzehr gereicht wurde; die Pflanzen in seinem Büro waren wohl die Hauptleidtragenden dieser Tortur. Auch wird ein Gerücht kolportiert, dass der große, alte Frankfurter Schrank (auch heute noch im Eingangsbereich des MPIL) eine von Professor Doehring gesponserte Minibar enthielt; aus eigener Anschauung vermag ich dieses Gerücht weder zu bestätigen noch aus der Welt zu schaffen. Überhaupt kursieren wohl über kaum einen ehemaligen Direktor mehr Anekdoten als über Professor Doehring; er war eben ein profilierter Charakter.

Professor Doehrings tatkräftiger Unterstützung verdanke ich, dass mir für das akademische Jahr 1976/77 eines der beiden großzügig dotierten, nicht fakultätsgebundenen Direktstipendien im Austausch zwischen der Heidelberger Universität und der Cornell University, Ithaca, New York, zugesprochen wurde. Das Jahr an der Cornell Law School war ein großartiges akademisches und persönlich prägendes Erlebnis. Der dort erworbene LL.M.‑Grad war ein wichtiger Baustein für meinen späteren beruflichen Lebensweg und mein Reüssieren in der internationalen Anwaltssozietät Baker McKenzie.

Doch so weit war es noch nicht. Zunächst hatte ich Gelegenheit, dank eines weiteren Stipendiums – einer Förderung des think-tanks Institute für World Order, natürlich wieder mithilfe eines Referenzschreibens von Professor Doehring – eine dreimonatige Stage bei der Rechtsabteilung der Vereinten Nationen in New York City zu verbringen. Auch dies eine interessante Erfahrung; das intensive Erleben des Big Apple während dieser Zeit, samt eines dreitägigen Blackouts, war flabbergasting. Nochmals intensiviert wurde das Erlebnis, weil ich mich in Cornell in eine griechische Studentin namens Adda verliebt hatte, die ich – wo sonst? – im Völkerrechtskurs kennen‑ und dann lieben gelernt hatte. Wir verbrachten die Zeit in NYC gemeinsam und es reifte der Entschluss, dass wir auch das weitere Leben gemeinsam verbringen wollten, zumindest zunächst in NYC.

Als sich nun meine Zeit bei den Vereinten Nationen ihrem Ende entgegen neigte, hatte ich einen schweren Canossagang vor mir, so schien mir jedenfalls der (zunächst telefonische) Gang nach Heidelberg, um Professor Doehring meine Pläne für die nächste Zukunft zu unterbreiten. Er hatte mir in seiner Eigenschaft als Direktor des MPIL für die Zeit nach meiner Rückkehr aus den USA eine Referentenstelle am Institut vorgehalten. Als ich nun beschlossen hatte, den USA mit Adda eine Chance zu geben und dort eventuell for good zu leben, schien mir diese Stage am MPIL hinfällig. Hier hatte ich mich jedoch profund getäuscht, hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als ich meinen Mentor aus NYC mit etwas weichen Knien anrief, um ihm diesen Wechsel in meinen Plänen mitzuteilen, schallte es mir umgehend und in no unclear terms ins Ohr: „Aber, lieber Herr Fritzemeyer, eine Stelle am MPIL lässt man nicht verfallen. Sie treten jetzt erst einmal an. Wenn Sie nach einem halben Jahr dann immer noch meinen, in die USA zu sollen, dann machen Sie das halt in Gottes Namen.“ Da gab es nun kein Vertun. Professor Doehring war mir Autorität. Ich war ihm zu großem Dank verpflichtet, war ihm immens dankbar, bin es nach wie vor. Und ihn tief zu enttäuschen, das hätte ich nicht übers Herz gebracht. So habe ich dann meine Zelte in den USA zunächst einmal abgebrochen. Adda und ich mussten eine halbjährige transatlantische Beziehung pflegen – nicht einfach für eine junge Liebe! Ich trat im Januar 1978 meine Stelle an, folgte meinem Mentor aber „in Gottes Namen“ auch insofern, als ich zum 30. Juni 1978 meinen Vertrag mit dem MPIL kündigte und wieder nach New York zurückkehrte, um erneut bei Adda einzuziehen und meine Stelle in einer New Yorker Sozietät anzutreten.

Das klingt nun nach einem etwas sinnlosen Hin und Her. Es stellte sich indessen heraus, dass es dies keineswegs war: Das halbe Jahr im MPIL war mir eine überaus wertvolle Zeit. Nicht nur der Vorarbeiten für meine Doktorarbeit (Thema: Die Intervention vor dem Internationalen Gerichtshof) wegen, sondern weit mehr noch angesichts des Erlebnisses, in solch einer hochkarätigen reinen Forschungsumgebung tätig zu sein. Mein Aufgabenfeld war beschränkt, meine Arbeitslast überschaubar. Es entstanden zwar auch zwei kleinere Publikationen, vor allem jedoch war mir der Umgang mit und das Lernen von den maßgeblichen deutschen Völkerrechtlern ein großes Erlebnis. Ich war zwar der jüngste Referent, dennoch wurde ich mit Wertschätzung aufgenommen und man suggerierte mir, „auf Augenhöhe“ mitarbeiten zu dürfen. Zentrales Erlebnis war es, ehrfurchtsvoll an den wöchentlichen Referentenbesprechungen teilzunehmen. In diesen Besprechungen referierten die Institutsangehörigen über neue Entwicklungen in und Erkenntnisse zu den jeweiligen Sachgebieten, die ihnen zugeteilt waren. Das waren Zuständigkeiten einerseits für einzelne Länder oder Regionen, andererseits für bestimmte Fachgebiete wie beispielsweise die Vereinten Nationen, ihre Unterorganisationen, die völkerrechtliche Schiedsgerichtsbarkeit oder das Weltraumrecht. Und wenn hier die Professoren Mosler (ehemals Richter am Internationalen Gerichtshof), Doehring (dessen Pfeife auch während dieser Sitzungen nicht ausging!), Bernhardt oder Bothe vortrugen und untereinander oder mit altgedient‑erfahrenen Akademischen Räten diskutierten, war dies ungemein spannend. Jedes Argument schien plausibel, aber auch jedes Gegenargument, nachgerade für einen Jungspund wie mich.

Karl Doehring 1960er (Foto: MPIL)

Die Sachgebiete waren naturgemäß ihrer Bedeutung und der Seniorität der Referenten entsprechend zugeordnet. So war mir denn unter anderem das in der Gesamtschau ungeheuer wichtige Gebiet der frankophonen Staaten Afrikas zugeteilt. Und noch heute bewundere ich die Geduld, mit der diese Koryphäen meinem Einstandsbeitrag zu diesem Thema lauschten, sicher insgeheim amüsiert ob der Ernsthaftigkeit und der Ausdauer, mit der ich ihnen ihre Zeit für wertvolles Forschen stahl. Sowohl intellektuell als auch persönlich war mir die Referententätigkeit ein großer Gewinn. So beendete ich meine Tätigkeit am MPIL doch auch mit einem weinenden Auge, aber das lachende Auge und der Drang zurück in die USA und zu Adda waren doch übermächtig. Auch wenn Professor Doehring über diese, in diesem Fall dann doch irreversible, Entscheidung nicht erbaut war, trug er mir das nicht nach. Und dies, obwohl das MPIL für ihn doch Nabel seiner Völkerrechtswelt war, für dessen Mitarbeiter – insbesondere wenn er sie mochte und diese im Gegenzug, so sagt man, jedenfalls zum peripheren Konsens mit seinen Einstellungen bereit waren – er sich uneingeschränkt engagierte. Seine Sorge ging hin bis zu den Betriebsausflügen, die ihm immer besonders am Herzen gelegen haben sollen: Jeden Ausflugsort habe er zuvor selbst besucht, um sicher zu gehen, dass er sich auch wirklich eigne.

Nach zweieinhalbjähriger Anwaltstätigkeit in NYC und dem Bar Exam dort sowie leider der Erkenntnis seitens Addas und mir, dass wir wohl doch nicht füreinander bestimmt waren (wir sind uns jedoch noch heute freundschaftlich verbunden) und nach einer halbjährigen Weltreise  – dank eines PanAm-Standby-Tickets „Around the World“ für $999! – trat ich eine Assistentenstelle bei Professor Kay Hailbronner, Schüler von Herrn Doehring und selbst langjähriger MPIL‑Mitarbeiter, in Konstanz an. Den Hinweis auf diese Stelle und meine Empfehlung Herrn Hailbronner gegenüber hatte ich – wem wohl? – Professor Doehring zu verdanken. Konstanz, und damit Professor Doehring, verdanke ich schöne zwei Jahre vertrauensvoller Arbeit für und mit Professor Hailbronner, meine Promotion sowie das Kennenlernen einer Assistentenkollegin namens Verena, die meine Frau und Mutter unserer drei Kinder geworden ist.

Karl Doehring in seinem Büro, 1970er. Foto: MPI

Karl Doehring in seinem Büro, 1970er. Foto: MPI

Und noch ein weiteres Mal hat Professor Doehring meinen akademischen Weg unterstützt: „Mit Freude“, so schrieb er mir, habe er eines der beiden Gutachten verfasst, die im Zusammenhang mit meiner Ernennung zum Honorarprofessor der Universität Konstanz erforderlich waren.

Die wohl letzte maßgebliche Begegnung hatten wir als Professor Doehring mir die Freude machte, anlässlich unsres Cornell Weekend 1993 – eines Treffens der deutschen Alumnae und Alumni der Cornell University – in Heidelberg als Referent zur Verfügung zu stehen. War sein Vortrag zum Thema Maastricht – Staat und Verfassung im zusammenwachsenden Europa schon spannend genug, wurde es auch die Diskussion, gegen alle Usancen „sokratisch“ ausufernd: Erst um 1:30 Uhr am frühen Morgen brach er notgedrungen – und  dem leisen Wink seiner lieben Frau (definitiv alles andere als eine Xanthippe!) folgend, es sei nun doch „etwas spät“ geworden – den Heimweg an.

Professor Doehring und ich blieben einander verbunden. Alle die beschriebenen, mir von ihm eröffneten Stationen waren prägend und bedeutungsvoll für mich und mein Leben; ich bin Professor Doehring zu größter Dankbarkeit verpflichtet (Verena und die Kinder natürlich auch!). Ich hoffe, dass ich ihm dies über die Jahre jedenfalls ein wenig deutlich machen konnte. Seine vorgenannte Autobiographie sollte auch denjenigen, die ihn nicht persönlich kennenlernen durften, deutlich machen, dass sich das MPIL glücklich schätzen durfte, einen solch wertvollen, humorigen, bisweilen wohl auch ein wenig kauzigen, sicher kantigen, auf jeden Fall intellektuell ehrlichen und empathischen Menschen in seinen Reihen und als langjährigen Direktor zu haben und zu erleben.

[1] Karl Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union. Erinnerungen, Berlin: wjs Verlag 2008.

Suggested Citation:

Wolfgang Fritzemeyer, „Eine Stelle am MPI lässt man nicht verfallen“. Oder: Eine kleine Hommage an Professor Karl Doehring, MPIL100.de, DOI: 10.17176/20240327-094310-0

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