Das wissenschaftliche Hochamt. Die Referentenbesprechung (vulgo Montagsrunde) am Institut

Papier, Stift und Zigarette. Referentenbesprechung, 1972 mit (v.l.n.r.): Fritz Münch, Helmut Strebel, Alexander N. Makarov, Bernhard Raschauer, Georg Ress, Helmut Steinberger, Albert Bleckmann, Alfred Maier, Meinhard Hilf, unbekannt, Rudolf Dolzer, Torsten Stein und Giorgos Papadimitriou (Foto: MPIL)

Die ministerialbürokratische Begrifflichkeit

Wenn das Institut mit drei zeitübergreifenden Charakteristika beschrieben werden sollte, so wären dies erstens seine Publikationen – insbesondere die Schwarze Reihe, die trotz des sinistren Namens seit Jahrzehnten einen Leuchtpunkt im Völkerrecht setzt – und die Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht – ein Beispiel für die Unaussprechlichkeit des Deutschen in fremden Zungen; zweitens die Bibliothek, welche dieser Blog zu Recht immer wieder lobend erwähnt; und drittens die Referentenbesprechung, welche es so lange gibt wie das Institut – und die, möchte man sagen, seine conditio sine qua non bildet – eine Bedingung, welche nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass auch das Institut entfällt. Bemerkenswert ist schon der – inzwischen muss man sagen – ursprüngliche Name: Referentenbesprechung. Denn dieser stammt nicht aus einer akademischen Nomenklatur, sondern aus dem Vokabular der Ministerialbürokratie. An der Universität gibt es Assistenten, wissenschaftliche Hilfskräfte. Referent hingegen ist ein Vortragender mit der Pflicht, sein besonderes Wissen auf einem besonderen Gebiet in die allgemeine Diskussion einzubringen, welche zu einer Entscheidungsfindung führt. Tatsächlich spricht aus dem gewählten Begriff der Geist, aus welchem das Institut entsprang: Es sollte durchaus nicht nur der „reinen Lehre“, sprich der wissenschaftlichen Forschung dienen, sondern durchaus auch in der Praxis beraten. In diesem Sinne äußerte sich schon der Gründungsdirektor Viktor Bruns. Der dritte Direktor Hermann Mosler hatte nach seiner Referentenzeit am Institut lange auch im Auswärtigen Amt gearbeitet und sah im Referentensystem des Instituts eine Spiegelung des ministerialen Organigramms.

Zum Referenten gehört natürlich ein Referat, und so wurde das Völkerrecht in Gebiete unterteilt und die Welt in Länder oder Ländergruppen, und jedes Gebiet beziehungsweise Land wurde einem Referenten zugeteilt, das dieser – manchmal nolens volens – fortlaufend beobachtete, so dass kein rechtlich relevantes Weltgeschehen sich der Aufmerksamkeit des Instituts entzog. Es gab Experten auch für entlegenere Länder oder solche mit einem schwierigeren sprachlichen Zugang – für Japan und China (in den siebziger und achtziger Jahren Robert Heuser), für die Sowjetunion (in den siebziger und achtziger Jahren Theodor Schweisfurth) oder Indien (Dieter Conrad).

Die Referentenbesprechung als Institutsinstitution

Zu den Beobachtungspflichten der Referenten traten die Berichtspflichten, das heißt es musste regelmäßig über alles Relevante berichtet werden, was sich im Bereich des jeweiligen Referates ereignete, und zwar zeitnah; die Bühne dafür bildete die wöchentliche Referentenbesprechung. Sie fand in den Anfängen des Instituts zweimal wöchentlich, nämlich dienstags und samstags, seit den fünfziger Jahren immer montags zwischen 16 und 18 Uhr statt, ein Hochamt, an dem teilzunehmen für alle wissenschaftlichen Mitarbeiter heilige Pflicht war. Ein Dispens wurde nur bei schwerwiegendsten Gründen erteilt, selbst die Direktoren teilten ihre außerinstitutionellen Aktivitäten, etwa Dienstreisen oder Sitzungen bei Organen des Europarates so ein, dass sie die Referentenbesprechung nie versäumten. Sie fiel nie aus, nur an Feiertagen und zwischen Weihnachten und Neujahr wurde einmal ausgesetzt, aber schon am 2. Januar konnte es weitergehen. Die Welt, auch die rechtliche, stand ja auch nicht still.

Kein Stillstand in der Welt. Fritz Münch, Günther Jaenicke und Rudolf Bernhardt (v.l.n.r.) bei der Referentenbesprechung 1972[1]

Der regelmäßige Vortrag aus dem eigenen Referat wurde erwartet, und diese Erwartung war von den Referenten so weit internalisiert, dass nur selten gesonderte Aufforderungen von Seiten der Direktoren erforderlich waren, die mit der Frage begannen: „Warum haben wir eigentlich noch nicht von diesem oder jenem Vorgang gehört?“ Dass ein jeder aus eigenem Antrieb regelmäßig berichtete, wurde als ein gebotenes Selbstverständnis vorausgesetzt. Man brauchte die Anmeldung eines Vortrags nicht Wochen vorher in einen Kalender einzutragen, ein kleiner Zettel mit Thema und Dauer konnte auch noch fünf Minuten vor Sitzungsbeginn bei der Sekretärin des sitzungsleitenden Direktors abgegeben werden.

Natürlich war der Eifer unter den Referenten nicht ganz gleichmäßig verteilt. Manche berichteten aus Liebe zum Fach oder zu sich selbst sehr häufig über das jeweilige Gebiet oder Land, auch wenn ihm in der Weltordnung nur eine geringere Bedeutung zukam. So gab es etwa den exzellenten Kenner der Türkei Christian Rumpf, der in den siebziger und achtziger Jahren so häufig zur Türkei vortrug, dass ein unbefangener Zuhörer hätte meinen können, die Türken stünden immer noch vor Wien. Besonderer Beobachtung erfreuten sich immer der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Europäische Menschenrechtskommission, weil das Institut mit den europäischen Organen verquickt war – durch Rudolf Bernhardt als Richter, später als Präsidenten des EGMR, und durch Jochen Abr. Frowein als Vizepräsidenten der Europäischen Menschenrechtskommission. Was in Straßburg geschah, fand in der Referentenbesprechung ein Echo.

More germanico. Ein deutscher Blick auf die Welt

Referentenbesprechung 1985. Mit: Peter Malanczuk (zweiter von links), Rainer Hofmann, Willy Wirantaprawira, Werner Meng, Torsten Stein, Karl Doehring, Otto Steiner (verdeckt), Juliane Kokott (davor), Lothar Gündling (an der Tür), Fritz Münch (vor Juliane Kokott), Matthias Herdegen (auf dem Stuhl schlafend)[2]

Die Referenten bildeten seinerzeit einen homogenen Stamm: weiß, männlich, deutsch und Volljurist. Frauen gab es wenige, Ausländer auch, die meisten von diesen arbeiteten an der Encyclopedia of Public International Law. Die Homogenität in der Zusammensetzung garantierte, dass die rechtlichen Phänomene in der Welt (nur) more germanico – nach „deutscher Methodik und Dogmatik” – untersucht und dementsprechend „fremdländische Perspektiven“ nicht eingenommen wurden. Gleichzeitig war gesichert, dass alle Referenten denselben juristischen Bildungskanon durchlaufen hatten und also auch über dasselbe solide Grundwissen, insbesondere auch im deutschen Recht verfügten. Dies machte die Verständigung einfacher, nicht alle diskutierten Fragen mussten ab ovo erklärt werden. „Amtssprache“ war Deutsch, über viele Jahre unhinterfragt; von den ausländischen Gästen, welche an der Referentenbesprechung teilnehmen und gelegentlich auch vortragen durften, wurde erwartet, dass sie des Deutschen mächtig waren oder es jedenfalls erlernten, wie dies beispielsweise bei dem späteren Präsidenten des Europäischen Gerichtshof Carlos Rodríguez Iglesias, dem späteren Präsidenten des spanischen Verfassungsgerichts Pedro Cruz Villalón oder dem ehemaligen Präsidenten des russischen Verfassungsgerichts Vladimir Tumanov der Fall war. Erst um die Jahrtausendwende wurde auf Anregung des israelischen Professors Yoram Dinstein in zwei Referentenbesprechungen im Monat auf Englisch kommuniziert.

Von der Wissensvermittlung zur Forschungsdebatte. Entwicklungslinien der Referentenbesprechung

Akribisch dokumentiert. Die Protokolle der Referentenbesprechungen[3]

Anfangs, so heißt es – der Autor dieser Zeilen übersieht aus eigener Anschauung nur 40 Jahre Referentenbesprechung – war der Stil der Veranstaltung vornehmlich „ministerial“, das heißt es ging mehr um die Vermittlung von Wissen als um die Diskussion des Vermittelten. Im Wesentlichen blieb es bei den Berichten. Erst in späteren Jahren, insbesondere unter der Ägide von Professor Frowein in den achtziger Jahren, wurden die Berichte dann auch einer kritischen Diskussion durch die anderen Teilnehmer der Referentenbesprechung unterzogen. Diese Diskussion war immer zeitlich begrenzt – wie auch die Berichte selbst; es war mehr als eine lässliche Sünde, wenn die angemeldeten Zeiten für einen Bericht überschritten wurden. Spätestens wenn Professor Frowein begann, mit dem Siegelring unruhig auf den Tisch zu schlagen, war der Zeitpunkt gekommen, aus dem kunstvoll aufgebauten eigenen Gedankengebäude mit seinem überreichen intellektuellen Zierrat – bisweilen vor seiner Fertigstellung – den Notausgang zu wählen. Hier erlebte man Wittgenstein in seiner praktischen Anwendung: Was (und sei es aus Zeitgründen) nicht gesagt werden konnte, darüber musste man schweigen. Die Zeitnot in den Besprechungen rührte von dem Anspruch des Instituts, dass nichts in der Welt geschah, was der Beobachtung, Analyse und Berichterstattung im Institut entging. Das verlangte nach vielen Berichten, die bisweilen nur über jeweils fünf Minuten gingen, so dass Referentenbesprechungen mit bis zu acht Berichten durchaus keine Seltenheit waren. Das erforderte eine gewisse Flexibilität im Geist des Zuhörers beim Sprung von dem Einmarsch in Grenada über einen Schnelldurchlauf durch das deutsche Asylrecht, mit einem kleinen Zwischenstopp beim Kriegsrecht in Polen und einem Halt bei einer Entscheidung des US Supreme Court, dazu ein Blick auf ein französisches décret-loi, ein Vaterunser lang eine Bemerkungen zum neuen Codex Iuris Canonici, um schließlich, wie regelmäßig, bei der neuesten Entscheidung des EGMR zu enden. Unter der Kürze der Vorträge musste übrigens deren Qualität nicht leiden, die Begrenzung der Zeit zwang zur Präzision von Gedanken und Ausdruck. Die Anstrengung des Zuhörers bei der Vorstellung dieses Universums wurde mit dem Gefühl belohnt, zumindest einen Überblick über das juristische Weltwissen zu haben.

Politik spielte bei den Vorträgen keine Rolle, Aktivismus in juristischem Kleide war unstatthaft, nur das kühle juristische Argument zählte. Das hieß natürlich nicht, dass die meisten keine politische Überzeugungen besaßen, nur durften diese keine Grundlage für die eigenen Darlegungen bieten. Die Gegenstände waren gewissermaßen „gerichtsfest“ aufzuarbeiten, das heißt so dass man in einem streitigen Verfahren vor einem Tribunal hätte bestehen können. Wissenschaftlich wurde in der Referentenbesprechung ein Rechtspositivismus gepflegt, ohne dass die Methodik der wissenschaftlichen Untersuchung selbst Gegenstand von Betrachtungen in der Referentenbesprechung wurde. Rechtsphilosophie gehörte nicht zu den Interessenschwerpunkten, gepflegt wurde eine Dogmatik im Sinne von Kant als „das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.“[4]

Nicht frei von inneren Ängsten. Diskussionskultur in der Referentenbesprechung

Karl Doehring (rechts) mit Kay Hailbronner (mitte) und Ernst-Ulrich Petersmann (links), 1972 bei einer Referentenbesprechung[5]

Der äußere Eindruck von der Referentenbesprechung in dem engen Besprechungszimmer im alten Institut an der Berliner Straße 48 – wo es keine feste Sitzordnung gab, aber einige Plätze inoffiziell für die Direktoren reserviert waren und frei blieben, auch wenn ein Direktor ausnahmsweise einmal abwesend war –erinnerte an ein Tabakskollegium – Professor Doehring, PD Schweisfurth und PD Stein erfüllten den Raum mit Tabakqualm (noch heute hängt er in den Büchern, die in diesem Raum vor dreißig Jahren standen). Dieser Anschein von Gemütlichkeit kontrastierte mit dem Stil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die Diskussion konnte durchaus scharfe Züge annehmen, insbesondere wenn argumentative Schwächen in der Darlegung oder eine unzureichende rechtliche oder tatbestandliche Aufklärung des Sachverhalts gewittert wurden. Mancher Vortragende sah sich unversehens in der Rolle des Angeklagten. Daher ging nicht jeder frei von inneren Ängsten in die Besprechung; sie war der „Mut-Court“ des kleinen Mannes. In der Referentenbesprechung galt wie in der Bibel: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“  Rücksicht auf etwaige Sensibilitäten wurde nicht genommen. Und wenn sich ein Referent in der rechtlichen Analyse um eine Oktave vergriffen hatte oder von Fehlvorstellungen ausging, wie ein fundierter Bericht auszusehen hat, konnte er durchaus zu einem Privatissimum – gewissermaßen einer wissenschaftlichen Nachbereitung – im Anschluss an die Referentenbesprechung in ein Direktorenzimmer gebeten werden, und das zählte zu den weniger angenehmen Erfahrungen im jungen Leben eines Referenten.

Die Anrede zwischen den Teilnehmern lautete förmlich „Herr“ bzw. „Frau” – und bei unverheirateten weiblichen Personen wie etwa bei den Referendarinnen Christine Haverland, Gerlinde Raub und Sabine Thomsen bis Anfang der achtziger Jahre auch noch – horribile dictu – „Fräulein“, durchaus ohne falschen Unterton ausgesprochen, gewissermaßen als Bezeichnung für das dritte Geschlecht, wie man es damals verstand (Dieser Anrede durften sich auch ältere unverheiratete Verwaltungs- und Biblikotheksmitarbeiterinnen, zumeist mit ihrem stillen Einverständnis, erfreuen). Die Schwingungen des neuen Zeitalters nach 1968 waren 15 Jahre später vom Institut noch nicht aufgenommen. Die Referenten duzten sich untereinander, soweit sie in derselben Alterskohorte waren, gegenüber den älteren blieb man in der Regel beim Sie. Nach Wissen des Verfassers hat Professor Mosler niemanden am Institut, auch nicht die Nachfolger im Direktorenamt geduzt, auch Professor Münch sprach alle Personen mit Sie an, und Professor Bernhardt hat sich noch bis zum Schluss, d.h. nach z.T. mehr als vierzig Jahren Zusammenarbeit auch mit seinen Co-Direktoren gesiezt.

Die Referentenbesprechungen wurden protokolliert, zumeist von den jungen Hiwis, die neben dem Referendardienst einen kleinen Arbeitsvertrag am Institut hatten; dies erforderte höchste Aufmerksamkeit – gerade wegen der Diversität der Themen und wegen der Menge des zu protokollierenden Stoffes. Über die Protokolle wurde ein wesentlicher Teil der Tätigkeit des Instituts archiviert.

In der Höhle des „Löwen“: Der Institutststammtisch 1985 mit: Werner Meng, Werner Morvay, unbekannt, Dieter Conrad, Jörg Polakiewicz und Rainer Hofmann[6]

An die Referentenbesprechung schloss sich der Stammtisch an, in den achtziger Jahren im „Löwen“ in Handschuhsheim, an dem Referenten und Direktoren teilnahmen. Die Gespräche flossen freier, es wurden oft weiter juristische Themen umkreist, allerdings mit größerem Abstand, und wie es zu einem guten Stammtisch gehört, waren nun auch politische Wertungen zugelassen. Besonders ausgelassen war die Stimmung dann zu vorgerückterer Stunde, wenn nur noch die späten – und zumeist trinkfesteren – Vögel aus der Familie der Schluckspechte um den Tisch hockten; dann wurde auch das zuvor Unsagbare beim Namen genannt. In den neunziger Jahren fand diese Form der Geselligkeit immer weniger Zuspruch und kam schließlich wegen Mangel an Teilnehmern ganz zum Erliegen. Heute, wo die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten die Uhrzeiten der Referentenbesprechung bestimmen, ist ein Stammtisch im unmittelbaren Anschluss an diese Veranstaltung undenkbar geworden. Diese Gesellschaftsform hat sich überlebt.

Internationaler und interdisziplinärer. Von der Referentenbesprechung zur Montagsrunde

Ganz langsam änderten sich mit den Zeiten auch die Gebräuche und Gepflogenheiten in der Referentenbesprechung; mit dem Beginn der neuen Ära seit der Jahrtausendwende und bedingt durch die allgemeinen Änderungen am Institut. Das neue Institutsgebäude bietet auch für die Referentenbesprechung sehr viel mehr Platz, zuerst in Raum 014, mit seinen abstrakten großflächigen Gemälden, dann im vornehmen Raum 038, der von großen Bildschirmen für hybride Veranstaltungen dominiert wird und durch dessen Fenster man dem munteren Treiben der Hasen und Kaninchen auf der Institutswiese zuschauen kann; er lässt aufgrund seiner Deckenhöhe auch für hochfliegende Gedanken genügend Raum und jedem genug Luft zum Atmen.

Die Zusammensetzung der wissenschaftlichen Mitarbeiterschaft ist bunter geworden. Der Anteil der Frauen ist erheblich gestiegen in Richtung Parität, es werden mehr Ausländer aus aller Herren Länder eingestellt, Deutsch als Kommunikationsmittel wird in der Referentenbesprechung vom Englischen verdrängt, höchstens noch eine Besprechung im Monat findet auf Deutsch statt. Die Mitarbeiter beherrschen nicht mehr alle Deutsch. Auch haben nicht mehr alle Mitarbeiter eine deutsche Juristenausbildung, manche Mitarbeiter kommen aus der Politologie, andere aus der Philosophie, Soziologie oder Geschichtswissenschaft. Damit ändern sich die Gegenstände und das Verfahren der Untersuchungen. Methoden- und Perspektivenvielfalt, die sich in den Vorträgen in der Referentenbesprechung spiegeln, führen zu neuen Erkenntnissen und Verständnissen der rechtlichen Vorgänge in der Welt, bisweilen unter Opferung der guten alten deutschen Dogmatik und einem Anwachsen dessen, was in einem Vortrag erklärt werden muss.

Die Referatszuteilung ist klammheimlich verschwunden, jeder darf nunmehr frei das Vortragsthema in der Referentenbesprechung wählen. Das garantiert eine Liebe des Vortragenden zum – oder jedenfalls ein originäres Interesse am – Thema. Allerdings entfällt damit auch der Anspruch des Instituts, in seiner Forschung die ganze Welt abzudecken. Manche Weltgegenden, in denen große Veränderungen vonstattengehen – wie in der arabischen Welt oder in China – sind aus dem Fokus des Interesses verschwunden und wurden wissenschaftlich gesehen zu terrae incognitae –, andere hingegen, insbesondere Südamerika haben eine zuvor nicht bestehende Aufmerksamkeit gewonnen und zahlreiche Vorträge, bisweilen sogar in spanischer Sprache, führen zu einer besonderen Expertise in dieser Region. Europa und den europäischen Ländern blieb das Institut immer treu.

Nur 40 Jahre Referentenbesprechung. Der Verfasser in seinem Büro 1985[7]

Nur noch zwei Vorträge werden in einer Sitzung angeboten. Sie dauern jeweils bis zu einer halben Stunde, woran sich eine ebenso lange Diskussion anschließt. Dies erlaubt eine Vertiefung der Thematik und eine erschöpfende Erörterung der behandelten Frage. Auch die Darstellungsform hat sich mit der Technik gewandelt. Während in früherer Zeit allein das gesprochene Wort die Information übermittelte, finden heute Vorträge multimedial statt; in der Regel wird jeder Beitrag von einer Präsentation begleitet. Es scheint, dass mit der technischen Revolution die Kapazitäten bei der optischen Verarbeitung von Information erheblich gestiegen sind, während sie bei der akustischen entsprechend abnahmen. Protokolliert wird seit ca. 2005 nicht mehr, die Arbeit schien zu viel; stattdessen gibt es seit 2020 die Möglichkeit, den Vortrag per Video aufzeichnen zu lassen und auf Wunsch des Vortragenden ins Netz zu stellen. Damit bietet sich die Öffnung des Arcanums der Referentenbesprechung für die Welt. Es geht weniger um die Archivierung als um die Verbreitung.

Es traten äußere Lockerungen im strikten Rahmen der Referentenbesprechung ein. Früher undenkbar, ist es nun zu einer Zeitverschiebung des heiligen Termins gekommen: mit Rücksicht auf Familienpflichten und Kinderbetreuungszeiten in Kindergärten wurde die Referentenbesprechung auf 15.30 Uhr vorgezogen, dann sogar auf 14.30 Uhr. Zudem wird jetzt die Referentenbesprechung im August wegen der Urlaubszeiten ausgesetzt und schließlich wird sie nunmehr durch eine, mehr oder weniger, 15-minütige Pause in zwei Einheiten zerlegt. In den Coronazeiten Anfang der zwanziger Jahre entdeckte man das hybride Format, das die Krankheit überlebte. Jetzt weiß man vorab nicht, welchem Mitarbeiter man in Leibhaftigkeit und wem nur in virtueller Form begegnet. Damit eröffnet sich für Kollegen mit einem höheren Spezialisierungsgrad und geringerem Interesse an dem ganzen Panoptikum völker- und verfassungsrechtlicher Themen die Möglichkeit, anwesend zu wirken, aber bei Fragestellungen außerhalb des eigenen Fachgebietes unbemerkt und ungestört die eigene Spezialisierung weiter voranzutreiben.

Inzwischen rauchfrei. Die Montagsrunde 2024[8]

Insgesamt ist die Stimmung in der Besprechung lockerer und freier geworden; niemand muss mehr die Sorge hegen, in ein Kreuzverhör genommen zu werden, auch der Irrtum hat seinen Raum – jetzt im Sinne von Hegel: „Die Angst vor dem Irrtum ist der Irrtum selbst.“ Die Stimmung ist von Wohlwollen geprägt.

Die Anrede änderte sich überwiegend in die vertraulichere Nennung mit dem bloßen Vornamen, was auch den Usancen im Englischen geschuldet ist; man kann nicht in der eigenen Sprache Distanz pflegen und gleichzeitig in der Fremdsprache die Nähe suchen. Auch der Übergang zum Du über alle Generationen und Hierarchien hinweg ist keine Ausnahme mehr.

Am Ende eines Vortrags gibt es jetzt, gewissermaßen als Ausdruck des Dankes, regelmäßig Beifall. Bis weit in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts galt es als unschicklich, auch gelungene Vorträge mit Applaus zu bedenken. Denn der Vortrag in der Referentenbesprechung war eine Dienstpflicht, und für die reine Pflichterfüllung wurde seinerzeit kein Beifall gezollt.

Summa summarum

In der Referentenbesprechung wurde über Jahrzehnte von kenntnisreichen Personen neuestes Wissen über die völker- und verfassungsrechtlichen Ereignisse in der Welt vermittelt. An keiner anderen wissenschaftlichen Einrichtung in Deutschland und wahrscheinlich in Europa erhält der interessierte Zuhörer einen solch komprimierten Überblick über die rechtlichen Vorgänge in der Welt. Sie ist das Aushängeschild für den Gegenstand und die Qualität der Arbeit am Institut, auf das gerade auch die ausländischen Gäste aufmerksam schauen.

Die Referentenbesprechung bietet zudem die Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten in der Vermittlung eigener Kenntnisse auszuprobieren und zu üben und dabei die eigenen Überlegungen zur Diskussion zu stellen und zu verteidigen, was zu weiteren Einsichten führen kann. In diesem Sinne ist – und war sie immer – auch eine Schule für das Leben.

Schließlich – und nicht zum Geringsten – hat die Referentenbesprechung über all die Jahrzehnte durch die regelmäßigen Treffen der Mitarbeiter für die Identitätsstiftung des Instituts eine zentrale Rolle gespielt; in dem intensiven Austausch über völker- und verfassungsrechtliche Themen bildete sich ein Esprit de Corps, der die Mitarbeiter zusammenhält und auch die Gäste mit einbezieht und zu Verbindungen führt, die auch nach der gemeinsamen Zeit am Institut fortbestehen. Dies ist ein Erfolg, der weit über die rein wissenschaftliche Erkenntnis hinausreicht.

[1] Foto: MPIL.

[2] Foto: MPIL, andere Personen waren nicht identifizierbar.

[3] Foto: MPIL.

[4] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Zweite hin und wieder verbesserte Auflage, Königsberg 1787.

[5] Foto: MPIL.

[6] Foto: MPIL; andere Personen waren nicht identifizierbar.

[7] Foto: MPIL.

[8] Foto: Maurice Weiss.

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