Zeitgenossenschaft, Expertise und das „Völkerrecht als Rechtsordnung“. Das MPIL „um 68“

Völkerrecht als Rechtsordnung. Festgesellschaft in der Alten Aula anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Instituts (Foto: MPIL)

Dieser Beitrag, zur Diskussion gestellt als Teil eines Roundtable-Gesprächs im Rahmen der Seminarreihe zur Institutsgeschichte, ist Teil einer gemeinsamen Reflexion über die Zeitgenossenschaft des MPIL. Ist es im Verlaufe seiner Nachkriegsentwicklung auf der Höhe seiner Zeit gewesen, und ist die Zeit auf der Höhe der Wissenschaft der MPIL gewesen? Letzteres wäre der Fall, wenn die Wissenschaft des Völkerrechts den realen Verhältnissen der inter­na­tionalen Beziehungen vorausgeeilt oder auf dem Wege wäre, die zukünftigen Etappen der Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft mitzugestalten.

I. Woran will ich die Zeit­genossenschaft des MPIL (in dem erwähn­ten doppelten Sinne) festmachen? Unter den verschiedenen methodischen Wegen zur Beant­wortung dieser Frage bot sich die mir persönlich nächstliegende Herangehens­weise an, nämlich die Identifizierung und Bewertung jener Thematik, welche das Institut seinerseits „um 68“ zum Gegenstand seiner Forschung gemacht und damit auf die völkerrechtswissenschaftliche Agen­­da gesetzt hat. Die Deka­de zwischen der Mitte der 1960er und der 1970er Jahre betrachte ich als die Zeitspanne, die man grob vereinfachend als „um 68“ charakterisieren kann. Diese Jahreszahl vermittelt ja nicht lediglich eine chronologische Infor­mation, sondern symbolisiert nachhaltig wirkende gesellschaftliche Ereignisse mit internationaler Ausstrahlung in verschiedene, vor allem westliche Gesell­schaften.

Hermann Mosler 1975 in der Alten Aula anlässlich des 50-jährigen Institutsjubiläums (Foto: MPIL)

Als para­digmatisch betrachte ich das Thema, mit dem Hermann Mosler, der da­malige Direk­tor des MPIL, die Serie der Beiträge eröffnete, die aus An­lass des 1974 gefeierten 50jährigen Bestehens des Instituts in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) veröffentlicht wurden. Es lautete: Völker­recht als Rechts­ord­nung. Natürlich war das keine speziell für das Jahrzehnt zwischen der Mitte der 1960er und 1970er Jahre charakteristische wissenschaftliche Fra­gestellung. Mosler hatte dieses Thema gewählt, weil er damit das Werk des Gründungsdirektors des Kaiser-Wilhelm-Instituts Viktor Bruns ehren wollte, der im Jahr 1929 die ZaöRV gegründet und den ersten Band mit eben dieser Thematik – „Völkerrecht als Rechtsord­nung“ eröffnet hatte.

Man könnte sagen, dass dieses Thema für das MPIL nicht nur aus Anlass seiner Jubiläen bedeutungsvoll und würdiger Gegenstand seiner Forschung ist, son­dern im Grunde die Ratio seiner Existenz ausmacht. Jubiläen wie das fünf- fünfzig- oder hundertjährige Bestehen des MPIL markieren daher lediglich Stationen, wie sich dieses für den wissenschaftlichen Auftrag des MPIL konstitutive Problem im geschichtlichen Prozess der dazu geführten Diskurse entwickelt hat. Aus Anlass des hundertsten Geburtstages des MPIL daran zu erinnern ist der Sinn der folgenden Überlegungen eines Nicht-Völkerrechtlers.

Original Typoskript des Vortrages „Völkerrecht als Rechtsordnung“ von Viktor Bruns, gehalten am 16. Februar 1927 vor der KWG (Foto: MPIL)

II. Zunächst: Was meinten die beiden Autoren Bruns und Mosler mit der Qualifi­zierung des Völkerrechts als Rechtsordnung? Gewiss verstanden sie unter dem Begriff Rechtsordnung nicht le­diglich eine Ordnung allein des recht­lichen Stof­fes, den wir als Völkerrecht klassifizieren, das heißt eine Ta­xonomie des Rechts­stof­fes, der die internationale Dimension des Rechts betrifft. So etwas gehört in den Hörsaal einer Vorlesung über das Völkerrecht und wird in den völker­recht­lichen Reflexionen und Forschungen vorausgesetzt. Wenn das Völkerrecht als Rechtsordnung qualifiziert wird, dann ist damit nicht gemeint, dass dieses Rechtsgebiet eine Ordnung hat und deswegen auch eine Ordnung dieses Rechtsgebietes ist – sinnvollerweise kann damit nur gemeint sein, dass das Völkerrecht eine ordnende Funktion für seinen Gegenstand hat, nämlich die internationale Gemeinschaft.

In modernen Gesellschaften ist die gesellschaftliche Ordnung zugleich eine Rechtsordnung – rechtlich konstituiert und reguliert. Sozial­ord­nung und Rechts­­­­ordnung sind weitgehend identisch – selbst der Bruch des Rechts ist ein rechtliches Ereignis. So ist zum Beispiel Diebstahl ein in die Alltagssprache eingegan­gener Rechtsbegriff für den Vorgang der Wegnahme einer Sache ohne oder gegen den Willen der bestohlenen Per­son. Das ist ge­meint, wenn von der konstitutiven Bedeutung der Norm für die Erkenntnis des rechtlichen Charak­ters sozialer Beziehungen und Verhält­nisse die Rede ist: der von der sinnlich wahr­nehmbaren konkreten Realität eines sozialen Verhältnis­ses abstrahier­ende Rechtsbegriff prägt Sprache und Be­wusst­sein einer durch Recht konsti­tuierten Ordnung. Ohne das Recht gäbe es diese Ordnung nicht; ohne das Recht wären die Men­schen lediglich ein Haufen im Hobbes’schen Naturzu­stand, in dem jeder gegen jeden um sein Überleben kämpft.

III. In der Begeisterung der demokratischen Bewegung der Paulskirchenversammlung 1848 und deren Ver­abschiedung einer Verfassung schrieb der Dichter Fer­di­­nand Frei­li­grath: „Noch gestern, Brüder, wart ihr nur ein Haufen; ein Volk, o Brüder, seid ihr heut“.

Die gegenwärtig gängige Formulierung für etwas Gleichartiges oder Ähnliches in Bezug auf die inter­na­tio­nalen Beziehungen lautet „regelbasierte Weltord­nung“. Das ist das Ideal ins­besondere der liberalen westlichen Demokratien des globalen Nordens. Eine regelbasierte Ordnung müsste auf globaler Ebene das leisten, was innerstaatlich jedenfalls in jenen Staaten gesichert erscheint: Frie­den und Ordnung durch Recht. Wir wissen, dass es das nicht gibt, in dem Zeitalter der Staatlichkeit seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch nicht gegeben hat.

Warum hat es diese Konstellation in den Beziehungen der Staaten nicht gege­ben? Die Antwort ist so schlicht wie folgenreich. Die Staaten bilden eine Plura­lität, sicherlich mehr als einen Haufen oder eine bloße Menge. Andererseits haben sie sich nicht wie der Freiligrath’sche Haufen zu einem kollektiv hand­lungsfähigen Ver­band transformiert – sie befinden sich damit in der paradoxen Situation, dass sie unter diesem Zustand der unorganisierten Vielheit zugleich leiden, wie ihn aber gleichzeitig auch genießen und mit allen Mitteln verteidi­gen. Sie leiden darunter, dass sie mangels ei­ner über ihnen existierenden sanktionsfähigen Autorität eines in­ter­na­tionalen Superstaates in ständiger Sorge um ihre Sicher­heit leben, die potentiell von jedem anderen Staat bedroht ist, und sich daher in ständiger kostenintensiver Wehrbereitschaft befinden müssen. Sie genießen diesen Zustand zugleich aber auch, weil sie dank ihrer Souveränität keiner ihnen überlegenen Ordnungsmacht unterliegen und weitgehend ungestört und selbstbezüglich ihre inneren Angele­gen­heiten regeln können – bis hin zu grausamster Unter­drückung ihrer jeweiligen Völker.

IV. Dieser „Souveränitätspanzer“ verhindert, dass völkerrechtliche Normen einen konstitutiven Status erlangen können. Sie können nicht den soziologischen Roh­­­zustand der internationalen Beziehungen souveräner Staaten in eine Ord­nung umwandeln, die einen verbindlichen kollektiven Mehrheitswillen hervor­bringen könnte, geschweige denn eine überlegene Autorität, die diesen Willen gegen Widerspruch durchsetzen könnte. Schon der Gegenstand des Völ­ker­rechts ist diffus: laut Präambel der UNO-Sat­zung sind es die „Völker der Ver­einten Natio­nen“, später im Text dann auch nur die „Vereinten Natio­nen“, in der Li­tera­tur wird auch von der „inter­na­tionalen Gemeinschaft“, „Staa­ten­ge­mein­schaft“, der „Völkerrechtsgemeinschaft“ oder der „Staaten­gesellschaft“ gesprochen, zuweilen von der Mensch­heit (man­kind). Bei genauer Betrachtung bilden die Staaten keine Gemein­schaft, sondern eine Gesellschaft. In der präzi­sierenden Unterscheidung zwischen Vergemeinschaftung und Vergesell­scha­ftung von Max Weber wird letztere als die Existenz einer sozialen Beziehung gekennzeichnet, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckra­tional) motiviertem Interes­senaus­gleich oder auf ebenso motivierter Interes­sen­ver­bindung beruht“.[1] In diesem Sinne kennzeich­net Hedley Bull, Be­grün­der der englischen Schule der internationalen Beziehun­gen, das Pluriversum der Staaten als „anar­chi­cal society“. Damit charakterisier­te er eine Konstellation, die durch drei widerspruchsvolle Elemente gekenn­zeich­­­net sei: Kriege zwischen den Staaten und Kämpfe um Macht; transnationa­le Solidarität und Konflikt sowie Kooperation und regulierte Beziehungen zwis­chen Staaten.[2] Auf ein weniger beachtetes Element dieser Beziehung von Krieg und internationalem anarchischem System hat übrigens der britische Militär­historiker Michael Howard in einem klugen Essay unter dem Titel The Invention of Peace  aufmerksam gemacht.[3]

Rudolf Bernhardt, Ernst Friesenhahn und Jochen Frowein auf der Tagung „Völkerrecht als Rechtsordnung“ 1975 (Foto: MPIL)

Die weitgehend anerkannten Eigenheiten der internationalen Ordnung be­ruhen darauf, dass die Staaten nicht rechtlich kon­stituiert sind. Staaten sind keine Geschöpfe des Rechts, sondern natur­wüch­sig aus dem mehr oder weni­ger gewalttätigen Verkehr der Staaten oder sonstiger Herrschafts­verbände hervorgegangene Gebilde (zum Beispielnach dem Zerfall von Imperien), die ausschließ­liche Herrschaft über ein umgrenztes Territorium und dessen Bevöl­kerung aus­üben. Während binnenstaatlich die soziale Ordnung durch die kon­stitutive Wir­kung der Verfassung in eine Rechtsordnung transformiert wird, bleibt die Exi­stenz der Staaten in der zwischenstaatlichen Sphäre ein bloßes Faktum. Kel­sen bezeichnete bekanntlich das Völkerrecht als eine „primitive Rechtsord­nung“. Da­­mit bezog er sich darauf, dass die generellen Normen des Völker­rechts nicht durch ein gesondertes Gesetzgebungsorgan erzeugt werden, son­dern durch die „Glieder der Rechtsgemeinschaft“ selbst, das heißt die Staaten.[4] Sie haben keine In­sti­­tu­tion hervorgebracht, die mit der selbständigen Wahrung der Gesamtinter­es­sen der „Gemeinschaft“ betraut wurde. Dass dies auch unter dem Schirm der UN-Charta gilt, zeigen deren Artikel 24 und 25. Danach handeln die Mit­glie­der des Sicherheitsrates bei der Erfüllung ihrer Hauptverantwortung für die Wahr­ung des Weltfriedens nicht im Namen und im Interesse einer in den Ver­einten Nationen verfassten Gemeinschaft der Staaten und deren Völ­ker, son­dern im Namen der Summe der Mitglieder der Vereinten Na­tionen, also der Staaten. Sie bleiben in ihrer Pluralität und Souveränität die Quel­le der Legitimi­tät der Beschlüsse des Sicherheitsrates. Die Verbindlichkeit der Beschlüsse des Sicherheitsrates ergibt sich folglich nicht aus einer strukturellen Über­legenheit eines Gesamtwillens über die Einzelwillen der Staaten; sie folgt aus der Über­einkunft der einzelnen Mitglieder der Vereinten Nationen, „die Be­schlüs­­se des Sicherheitsrates im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und durchzufüh­ren“ (Artikel 25). Quelle der Legitimität der Beschlüsse des Sicher­heitsrates sind die Übereinkünfte der Staaten, die damit auch die Interpretationshoheit über deren jeweiligen Inhalt und damit über das Maß der Verbindlichkeit innehaben.

Zum Mitglied einer „anarchischen Gesellschaft“ nach der erwähnten Konzepti­on von Bull wird ein Staat als Faktum erst durch die Anerkennung als Staat – erst dadurch erwirbt er den Status eines internationalen Rechts­sub­jektes.[5] Bei­des – Anerkennung und Völkerrechtsfähigkeit – sind Begriffe des Völkerrechts. Ihre Geltung und Anwendung schaffen eine eigene soziale Wirklichkeit und er­lösen damit die faktische Wirk­lichkeit eines „naturhaften“ Nebeneinanders von ungleich machtvollen souveränen Herrschafts­gebilden von ihrem Verharren in der rohen Ver­sion eines Hobbes’schen Naturzustan­des.

V. Was durch die Geltung dieser völkerrechtlichen Nor­men, im Verbund mit dem elementaren, in der Re­gel rechtsethisch fundierten Grundsatz pacta sunt servanda[6] bewirkt wird, ist nichts weniger als der erste Schritt hin zu einer Rationalisierung des rohen Zustandes einer Viel­zahl machtoppor­tu­nistisch agierender Souveräne in eine normativ inspirierte Konstellation eines ge­ord­neten Ne­beneinanders. Man kann also den genannten völkerrechtlichen Nor­men einen konstitutiven Char­akter zuspre­chen.

Rechtfertigt das die These vom Völkerrecht als Rechts­ord­nung? Es kommt darauf an, welche Ansprüche wir an den Begriff der völker­recht­li­chen Ordnung stellen. Verstehen wir darunter die oben erwähnte „re­gelbasierte internationa­le Ord­nung“, so wird man die Frage wohl verneinen müssen. Denn beim gegen­wärtigen Stand der ungezügelt ausgetragenen inter­nationalen Konflikte ist von einer ordnenden, geschweige denn steuernden Macht des Völkerrechts wenig zu se­hen. Für uns Heutige muss der Frieden noch erfunden werden. Wir werden uns wohl mit der bescheide­neren Idee einer regelorientierten Ordnung zufriedengeben müssen. Die Kluft zwi­schen regelbasiert und regel­ori­entiert ist das Feld der internationa­len Politik. Sie benötigt dringend die Exper­tise und Kreativität der völkerrechtlichen Pro­fession und ihres deutschen Hor­tes, des Heidelberger MPIL. Dessen Jubiläum zum hundertjährigen Bestehen ermutigt zu kühnen Hoffnungen und Wünschen.

[1] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1972, 21.

[2] Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London:  Macmillan1977, 41.

[3] Michael Howard, The Invention of Peace. Reflections on War and International Order, London: Yale University Press 2000.

[4] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), 5. Neudruck, Wien: Verlag Österreich 2000, 323 ff.

[5] Vgl.  Wilfried Schaumann, Anerkennung, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. I, Berlin: De Gruyter 1960, 47 ff.; Hermann Mosler, Völkerrechtsfähigkeit, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, Berlin: De Gruyter 1962, 665 ff.

[6] Hierzu Werner Kägi, Pacta Sunt Servanda, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. II, Berlin: De Gruyter 1961, s711-716.

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Ulrich K. Preuß war bis 2011 Professor für Rechtliche Grundlagen der Politik an der Freien Universität Berlin bzw. für Law and Politics an der Hertie School of Governance in Berlin.

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