Völkerrecht als Rechtsordnung: 1929 ─ 1976 ─ 2024

Viktor Bruns an seinem Schreibtisch im Berliner Schloss, undatiert (Foto: Privatarchiv Rainer Noltenius)

1. “Völkerrecht als Rechtsordnung”: Forschungsprogramm des MPIL

Viktor Bruns, Gründungsdirektor des Instituts, lancierte im Jahr 1929, also fünf Jahre nach Institutserrichtung, die Zeitschrift für ausländisches Recht und Völkerrecht (ZaöRV), die er mit einem langen Artikel über „Völkerrecht als Rechtsordnung“ einleitete. Dieser Aufsatz war als Auftakt einer Reihe geplant,[1] tatsächlich wurde aber nur ein Fortsetzungsaufsatz veröffentlicht.[2]

Anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Instituts im Jahre 1974 widmete Direktor Hermann Mosler dem „Völkerrecht als Rechtsordnung“ wiederum einen umfangreichen Beitrag, der 1976 in der ZaöRV erschien. Ausweislich ihres Titels legen beide Beiträge dar, inwieweit das Völkerrecht nicht nur „Recht“ ist, sondern vielmehr eine „Rechtsordnung“ bildet. Wegen des in der Max-Planck-Gesellschaft geltenden Harnack Prinzips, also die Ausrichtung ganzer Institute auf die Visionen ihrer Direktoren, können diese Aufsätze durchaus als Forschungsprogramme nicht nur der Direktoren, sondern des MPIL gelten.

Laut Mosler ließ sich seinerzeit „nicht übersehen, daß die beiden Zeitpunkte – Mitte der zwanziger und Mitte der siebziger Jahre – günstige Ansätze für die Beurteilung für den Vergleich bieten. Zwischen diesen beiden Polen liegen die alsbald enttäuschten Hoffnungen auf die Wirksamkeit einer internationalen Ordnung ….“.[3] Dasselbe kann von der Mitte der 2020er Jahre gesagt werden: Hinter uns liegen die enttäuschten Hoffnungen auf die Wirksamkeit der „neuen Weltordnung“, die nach dem Berliner Mauerfall 1989 ausgerufen worden war.[4]

Der Moment ist also wieder ein günstiger, um anlässlich des 100. Institutsgeburtstages die beiden programmatischen Aufsätze der Direktoren Bruns und Mosler neu zu lesen (Teile 2 und 3) und Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten (Teil 4). In Teil 5 würdige ich den bleibenden Ertrag dieser Jubiläumsbeiträge und plädiere im Schlussteil 6 für ein aufgepepptes Programm von Völkerrecht als Rechtsordnung als Vorbedingung der Möglichkeit von wirksamer Völkerrechtskritik in einer Phase der Neu-Ordnung der Welt.

2. Bruns 1929

Hier verfasst? Schreibtisch von Viktor Bruns im Berliner Schloss, undatiert (Foto: Privatarchiv Rainer Noltenius)

Zum historischen Kontext von Bruns‘ Beiträgen von 1929 und 1933 gehören der verlorene Erste Weltkrieg, der von vielen Deutschen als unfair empfundene Vertrag von Versailles und die Blüte der internationalen und transnationalen Schiedsgerichtsbarkeit, die eine umfangreiche Rechtsprechung zur Bewältigung der Kriegsfolgen hervorbrachte, insbesondere durch Feststellung von Entschädigungs- und sonstigen Ansprüchen gegen den deutschen Staat.

Diese Schiedsgerichte haben den völkerrechtlichen „Rechtsstoff“ – so Bruns – „evident gemacht“.[5] Jedoch seien „die heutigen Systeme [und hiermit meinte Bruns die wissenschaftlichen Systeme] nicht ausreichend, um diesen „Rechtsstoff“ „zu erfassen“ und ein Gewebe daraus zu schaffen. Vor diesem Hintergrund suchte Bruns, „die wichtigste Aufgabe einer Wissenschaft zu erfüllen, nämlich eben jener Tätigkeit der Gerichte vorzuarbeiten und ihr die systematischen Zusammenhänge einer in sich geschlossenen Rechtsordnung aufzuzeigen“.[6] Bruns‘ Erkenntnisziele waren somit primär anwendungsorientiert. Seine zahlreichen Beispiele aus Verträgen und Rechtsprechung, insbesondere im Aufsatz II (1933) stellen diesen Anwendungsbezug auch her.

Bruns eröffnete den ersten Aufsatz mit seiner Kernthese: “Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung für die Gemeinschaft der Staaten, ein System von Rechtssätzen, die untereinander in einem Ordnungszusammenhang stehen.“[7] Eine Rechtsordnung ist durch ihre Systematik gekennzeichnet. Sie ist „nicht eine systemlose Zusammenfassung von einzelnen unter sich beziehungslosen Regeln und Einrichtungen“.[8]

Ausserdem – wichtig –  ist sie „Ordnung in einem doppelten Sinne“: Sie schafft in der sozialen Wirklichkeit Ordnung, und zwar gerade durch ihre eigene (innere) Ordnung.[9] Anders gewendet: (Nur) aufgrund seiner inneren Ordnung kann – laut Bruns – das Recht, insbesondere das Völkerrecht, seine Aufgabe der „Ordnung“ der Welt erfüllen. Als „Wesen der Rechtsordnung“ sah Bruns das „Friedensgebot“ an.[10] Hierfür ist die Streitbelegung durch (schieds-)gerichtliche Instanzen zentral, ohne die es weder Ordnung noch überhaupt Recht geben kann.[11] Aus der Eigenschaft des Völkerrechts als Rechtsordnung folgte für Bruns, dass das Völkerrecht den Staaten positiv Kompetenzen zuweise und dass das staatliche „Persönlichkeits- oder Freiheitsrecht“ „mit Rücksicht auf die gleichgeordneten Genossen der Gemeinschaft“ nur „generell beschränkt“ sein könne, denn anders wäre „eine Rechtsordnung überhaupt nicht denkbar“.[12] Es kann somit, folgerte Bruns, keine allgemeine völkerrechtliche Handlungsfreiheit der Staaten geben.[13] Insgesamt verfolgte Bruns mit seinen Beiträgen kein geringeres Ziel als „für das Völkerrecht ein System und eine Methode zu finden“.[14]

3. Mosler 1976

Schreibtisch von Hermann Mosler im MPI 1972 (Foto: MPIL)

Im Jahr 1976 waren die Dekolonisierung und die damit einhergehende Aufnahme zahlreicher neuer Staaten des Globalen Südens in die Vereinten Nationen in vollem Gange. Vorausgegangen waren in Europa die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), zu der Mosler die deutsche Delegation beraten hatte, und dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957). Die Ost-West-Blöcke hatten sich verfestigt und es herrschte der Kalte Krieg. In diesem Klima waren zwei getrennte UN-Menschenrechtpakte erarbeitet worden, die 1966 unterzeichnet wurden und die 1977 in Kraft treten sollten. Die Schlussakte von Helsinki (1975) umfasste einen sogenannten „Menschenrechtskorb“ mit humanitären Anliegen. Die UN Generalversammlung verabschiedete in den 1970er Jahren ihre grundlegenden quasi-kodifikatorischen Resolutionen, beginnend mit der Friendly Relations Declaration (1970) bis zur Definition of Aggression (1974).

Diese Ereignisse spiegeln sich in Moslers Charakterisierung der Völkerrechtsordnung. Er benannte und analysierte vier „kennzeichnende Element[e]“ „der internationalen Rechtsordnung“[15] bzw. der „modernen internationalen Gemeinschaft“[16]: Das erste Charakteristikum war „die Explosion der Mitgliederzahl der Vereinten Nationen“.[17] Das „zweite kennzeichnende Merkmal“ war „das organisatorische Element“[18] – im Gegensatz zum „unorganisierten Völkerrecht“[19] der Vergangenheit. Hier sprach Mosler den Bedeutungszuwachs internationaler Organisationen an und brachte viele Beispiele aus der Praxis der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft.

Die internationalen Organisationen dienen, so Mosler, der „Schaffung von Staaten durch Konvention“.[20] Durch die Beitritte zu den Organisationen, durch deren Aufnahmebeschlüsse, werden Territorien „mit ungesicherter eigener Lebensfähigkeit“[21] zu Staaten „befördert“[22]. Diese neuen Staaten des Globalen Südens unterscheiden sich „soziologisch“ von den alten Staaten des Nordens, die „notwendige Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft“ waren. „Man könnte sie [die neuen Staaten] konventionelle, nicht aber soziologische oder originäre oder spontane Staaten nennen“.[23] Deren Entstehung und Aufnahme in die Organisationen „änderte auch den Charakter der internationalen Gesellschaft“.[24]

Drittens bemerkte Mosler die „Wiederauferstehung der alten Unterschiede zwischen großen und anderen Staaten“.[25] Damit spielte er auf die Vormachtstellung der P 5 im UN-Sicherheitsrat an. Das vierte Charakteristikum war eine dem Menschen zugewachsene „völkerrechtlich erhebliche Stellung“, „auch gegenüber der eigenen öffentlichen Gewalt“.[26] Mosler befand, dass „[d]ie Position der menschlichen Person“ die „in ihrem Kernbereich, je enger der Zusammenhang mit der Würde der Person ist, zum ordre public der Völkerrechtsordnung gehört“.[27]

Moslers Zugang zum Völkerrecht war praxisorientiert, und das heißt letztlich rechtsdogmatisch. Mosler lehnte beispielsweise eine „soziologische Rechtsbegründung“ ausdrücklich ab.[28] Die „Befolgung des rechtspraktischen Ansatzes“ war, wie Felix Lange herausgearbeitet hat, ein „bewusstes, politisches Programm“.[29] In einem Rückblick schreibt Mosler: „Weil unser Fach politisch bestimmte Objekte hat und weil es für politische Zwecke gebraucht und missbraucht wird, war nicht nur Leistung zu beweisen, sondern mussten auch Misstrauen und Abwehr überwunden werden“.[30]

Mosler hatte damit insbesondere den Missbrauch der nationalsozialistischen Völkerrechtstheorie im Sinn. Er hielt möglicherweise sämtliche Formen von Völkerrechtstheorie für missbrauchsanfällig. Seine (ganz überwiegend) dogmatisch geprägte und damit vermeintlich „unpolitische“ Methode sollte hiergegen schützen. Auf diesem Wege wollte Mosler Deutschland wieder in die Völkerrechtsgemeinschaft einführen. Seine Bemühungen hatten (in Kombination mit vielen anderen Faktoren) Erfolg: Die Bundesrepublik Deutschland wurde (gleichzeitig mit der DDR) als Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. Sie erhielt das Gütesiegel des „friedliebenden Staates“ (Art. 4 Abs. 1 UN Charta) ─ erst 1973, kurz vor dem 50-jährigen Institutsjubiläum und 24 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und Wiederbegründung des Instituts.

4. Kontinuitätslinien von Bruns zu Mosler

Der politische Kontext, der Entwicklungsstand des Völkerrechts und die Methoden der Völkerrechtswissenschaft waren im Jahr 1976 andere als noch 1929. Dennoch sollten die Unterschiede nicht überbetont werden, da vielfache Kontinuitätslinien bestanden. Das institutionelle Design der Vereinten Nationen von 1945 orientierte sich am Völkerbund, und auch die Politiken der neuen Organisation knüpften an die Völkerbundsarbeit an.[31] Das Gewaltverbot wurde zwar 1945 auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt, war aber bereits vor den 1920er Jahren ausgebildet worden, wobei der Briand-Kellog Pakt von 1928 einen Meilenstein bildete.[32] Auch Wirtschaft, Soziales und Arbeit waren schon zu Bruns‘ Zeiten Anliegen des Völkerrechts, insbesondere des Völkerbundes und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), und sie blieben es in der Ära Mosler.

Betonung der Kontinuität. Jubiläumskolloquium “Völkerrecht als Rechtsordnung” 1975 (Foto: MPIL)

Die wirklich neuen Themen der 1970er Jahre waren die Dekolonisierung und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, die auf völkerrechtlicher Ebene mit der Stockholmer Erklärung der UN-Generalversammlung von 1972 aufgegriffen worden war.[33] Das letztgenannte Thema jedoch erwähnte Mosler mit keinem Wort.

Auf den ersten Blick besteht ein starker Gegensatz zwischen der Bruns‘schen strikt zwischenstaatlichen Ordnung[34] und Moslers Einbeziehung von internationalen Organisationen und Individuen. Jedoch weist auch Mosler den neuen Akteuren klar den Status von zweitklassigen Völkerrechtssubjekten zu. Die Organisationen sind nur „jeweils ein Homunkulus der Staaten“,[35] von ersteren erzeugt, getragen, und beseitigbar; sie besitzen keine „Existenz aus sich selbst“ und sind „nicht der Rechtsordnung vorgegeben“[36], sind nicht „primäre oder ursprüngliche oder notwendige Rechtsubjekte“ wie die (europäischen) Staaten.[37] Auch die veränderte Position des Individuums berührte nach Mosler „die spezifische Strukturfrage der Völkerrechtsordnung … nicht“.[38] Diese blieb „eine im wesentlichen auf den Staaten aufbauende Rechtsordnung“.[39]

Mosler schätzte Bruns‘ Darlegung der Lückenlosigkeit des Völkerrechts als eine „in sich geschlossene Rechtsordnung“[40] und folgte ihr. Lückenlosigkeit oder „Geschlossenheit“ bedeutete für Bruns, dass die Regeln und Grundsätze des Völkerrechts „vollständig“ sind und somit die staatliche Handlungsfreiheit konstituieren und damit auch begrenzen.[41] Mosler legte diese Vollständigkeit bzw. Lückenlosigkeit der Völkerrechtsordnung zugrunde.[42] Er nahm – wie Bruns[43] – an, dass „die Grenzen der staatlichen Kompetenz durch das Völkerrecht festegelegt würden.[44] Beide Direktoren lehnten dementsprechend das Lotus-Prinzip des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, die Vermutung einer allgemeinen Handlungsfreiheit der Staaten, ab.[45]

Das Forschungsprogramm beider Direktoren war praxisorientiert. Dem entsprach am besten die rechtsdogmatische Methode. Einige Völkerrechts- und Völkerrechtswissenschaftsverständnisse wurden von den Direktoren entweder nicht thematisiert oder ausdrücklich zurückgewiesen. Beide Direktoren lehnten einen Rechtspositivismus kelsenianischer Prägung ab, wobei Bruns keine erkennbare alternative Rechtstheorie anbot.[46] Bruns argumentierte sehr rechts-logisch und rein rechts-immanent, so dass der jeweilige Gedankengang vollkommen von den juristischen Prämissen abhing. Er wies zahlreiche Überlegungen als sozusagen juristisch unmöglich zurück, da sie nicht „denkbar“ oder nicht „denkmöglich“ seien, wohingegen die von ihm angeführten Argumente „apriorisch“ oder dem „Wesen“ (des Völkerrechts, der Ordnung usw.) gemäß und somit korrekt seien.

Mosler bekannte sich demgegenüber ausdrücklich zu einer naturrechtlichen Grundlegung des Völkerrechts.[47] Mosler suchte also den „Geltungsgrund“ des Völkerrechts[48] und arbeitete die charakteristischen Elemente der Ordnung heraus, insbesondere „Verfassungselemente der Völkerrechtsgemeinschaft“.[49]

Diese Unterschiedlichkeit der Zugänge zum Völkerrecht wird von einer Gemeinsamkeit überwölbt: Beide Direktoren betrachteten das Völkerrecht vorrangig instrumentell. Dieses Recht war ein Werkzeug (oder eine Waffe) und sollte im Interesse Deutschlands optimal auch auf der außenpolitischen Bühne genutzt werden können. Diesem Ziel diente die völkerrechtswissenschaftliche Arbeit am MPIL. Mosler benannte klar den historischen Hintergrund der Institutsgründung: Es ging um den “Kampf gegen den als ungerecht empfundenen Vertrag von Versailles“. „Die rechtlichen Mittel, die das Vertragswerk selbst an die Hand gab, sollten ausgeschöpft werden.“ „Das Institut verdankt seine Entstehung weitgehend dem Bedürfnis, die Auseinandersetzung mit soliden völkerrechtlichen Argumenten auf der Basis einer umfassenden Dokumentation zu führen.“ Dennoch „sei das Institut kein Hilfsinstrument der Reichsregierung, sondern ein Institut der Grundlagenforschung“ gewesen, zunächst mit der Hauptaufgabe des Aufbaus einer Materialsammlung.[50]

In Bruns‘ Aufsatz wird dieser Sammel- und Systematisierungsauftrag explizit gemacht, nicht aber der Einsatz des Völkerrechts als Waffe für Deutschland. Die (rein) deutsche Perspektive wird jedoch überdeutlich im Vorwort der neuen ZaöRV. Hier zählt Bruns zu den “Hauptproblemen der Gegenwart: Das Reparationsproblem, die Auslegung der Friedensverträge, das Minderheitenproblem“.[51] Diese drei Themen waren, global gesehen, nicht unbedingt die wichtigsten zeitgenössischen Völkerrechtsfragen, aber sie waren tatsächlich die wichtigsten Fragen für Deutschland. Dazu passt das dem Aufsatz von 1929 zugrundliegende Vortragsmanuskript „Völkerrecht als Rechtsordnung“.[52] Es endet mit den Worten: „Ich glaube, wir Deutschen haben von einem Sieg des Rechts alles zu hoffen und nichts zu fürchten.“

Mosler vertrat ebenfalls deutsche Interessen. Im seinem bereits erwähnten Rückblick nannte er die “Wiedergewinnung einer Position im internationalen Austausch“ als das „Hauptziel“ des Instituts in der Nachkriegszeit.[53]

Im Ergebnis war das Forschungsprogramm beider Direktoren (und damit auch dasjenige des Instituts) von mehr oder minder intensivem epistemischem Nationalismus geleitet. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass beide Direktoren Deutschland (bzw. die Bundesrepublik) in einer parallelen Situation vorfanden: Nach einem verlorenen Weltkrieg, als geschwächter Staat, ja als Paria-Staat, der seinen Platz in der Gemeinschaft zivilisierter Staaten erst wieder erringen musste, unter anderem mit völkerrechtlichen Argumenten – lawfare für Deutschland.

5. Rückblick auf Erkenntnisse von Bruns und Mosler

a) Viktor Bruns

Während Bruns seinen Aufsatz vorbereitete, wurden anderswo ideengeschichtliche Fundamente gelegt, deren Bedeutung für das heutige Völkerrecht und die Völkerrechtswissenschaft damals kaum zu erahnen war. Die Muslimbrüderschaft, deren Ableger Hamas heute als globale Terrororganisation mit Sanktionen belegt wird,[54] ist 1928 gegründet worden. Im selben Jahr publizierte Margret Mead Coming of Age in Samoa, das zum Kultbuch in späteren Diskursen um Kulturrelativismus und Rechtspluralismus avancieren sollte.

Vortragsmanuskript “Völkerrecht als Rechtsordnung” von Viktor Bruns 1927 (Foto: MPIL)

Viktor Bruns dürfte durch familiäre und gesellschaftliche Kontakte über das ganze Spektrum wissenschaftlicher Innovationen seiner Zeit, auch und gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften informiert gewesen sein.[55] Offenbar entschied er sich bewusst für eine streng rechtsdogmatische Herangehensweise, unter Verzicht auf transdisziplinäre Kontextualisierungen oder Methoden. Als „ein Hauptverdienst der Bruns’schen Arbeit“ würdigte jedenfalls Mosler den von Bruns „durch rationale Argumentation und Staatenpraxis“ begründeten Nachweis der Lückenlosigkeit des Völkerrechtsordnung.[56] Bruns vertrat hier – wieder in den Worten Moslers – einen „für die damalige Zeit fortschrittliche[n] Gedanke[n]“.[57] Mit diesem stellte sich Bruns gegen „die zeitgenössischen Verfechter des staatlichen Souveränitätsdogmas“.[58]

Tatsächlich folgt heute die (deutsche) Literatur tendenziell der von Bruns vehement vertretenen und aus dem Ordnungs-Charakter „abgeleiteten“ Ansicht, dass die Staaten jeweils spezielle Handlungsermächtigungen benötigen.[59] Demgegenüber ging der IGH in seinem Kosovo-Gutachten wieder Lotus-mäßig davon aus, dass alles erlaubt sei, was nicht spezifisch vom Völkerrecht verboten ist.[60]

Bruns erwähnte zahlreiche Völkerrechtsthemen, die im Jahr 1929 angelegt wurden und die bis heute von zentraler Bedeutung sind, gar nicht. Das Gewaltverbot kommt nicht vor, obwohl der Briand-Kellog-Pakt 1929 in Kraft trat. Das humanitäre Völkerrecht wurde nicht genannt, obwohl die Rotkreuzbewegung im Jahr 1929 formalisiert wurde und zwei Genfer Konventionen im selben Jahr unterzeichnet wurden. Menschenrechte waren kein Thema, obwohl Bruns die Vorbereitungen einer “Déclaration des droits internationaux de l‘ homme” kennen musste, die am 12. Oktober 1929 vom Institut de Droit International verabschiedet wurde.[61]

Auch der Völkerbund kam bei Bruns praktisch nicht vor, außer im Kontext langatmiger Erörterungen zur domaine réservé. Dementsprechend fehlt bei Bruns jegliche Reflexion zur möglicherweise neuartigen Qualität dieser Organisation und ihrer Arbeit.[63] Da Bruns also den Genfer Geist[64] gar nicht mit trug, trifft ihn der spätere Vorwurf des naiven Idealismus nicht.[65] Insgesamt dürfte Bruns bleibendes Verdienst die von ihm angeregte und angeleitete Sammeltätigkeit und damit verbundene Rechtssystematisierungsleistung des Instituts sein.

b) Hermann Mosler

Hermann Mosler 1975 (Foto: MPIL)

Mosler war aus meiner Sicht innovativer und visionärer. Er hat die „Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte“ frühzeitig erkannt und rechtsdogmatisch eingeordnet.[66] Mit seiner allgemeinen Haager Vorlesung zu diesem Thema[67] erreichte er auch ein internationales Publikum.

Mosler qualifizierte das Selbstbestimmungsrecht progressiv als „peremptory norm“.[68] Dies könnte damit zusammenhängen, dass dieses Recht in der völkerrechtlichen Diskussion zum Status der der Bundesrepublik Deutschland und für die „Deutsche Frage“ zentral war. Der IGH konnte sich zur Qualifikation des Selbstbestimmungsrechts als Ius cogens (bei Fremdbesetzung) erst 48 Jahre später in seinem Gutachten zu Palästina durchringen.

Demgegenüber sprach Mosler den Resolutionen der UN-Generalversammlung keine völkerrechtserzeugende Kraft zu. Eher sah er „die bisher nicht vermiedene Gefahr, daß durch politisch motivierte Mehrheitskombinationen ein nicht repräsentatives Bild der Rechtsüberzeugung vermittelt wird“.[70] Damit blieb er wesentlich zurückhaltender als (von ihm nicht zitierte) Kollegen, die diesen Resolutionen bereits Jahre zuvor eine erhebliche normative Relevanz beigemessen hatten.[71]

Schliesslich war Mosler meilenweit von einer postkolonialen Weltsicht entfernt, die Kollegen aus dem globalen Süden damals vertraten. Der letztlich gescheiterte Versuch des globalen Südens, eine neue Weltwirtschaftsordnung (NIEO) durchzusetzen, ging an Mosler – jedenfalls ausweislich seiner hier untersuchten Programmschrift – fast völlig vorbei: Mosler erwähnte nicht die einschlägigen Generalversammlungsresolutionen,[72] sondern lediglich die Charta über die wirtschaftlichen Rechte und Pflichten als „das bekannteste Beispiel“ der aktuellen Generalversammlungsresolutionen, welche „Tendenzen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts zum Ausdruck (…) bringen“.[73] So überrascht es kaum, dass Mosler jegliche Kritik an einer “neoliberalen“ Völkerrechtsordnung fremd blieb, die bereits von französischen Kollegen formuliert worden war.[74]

Mohammed Bedjaoui und Georg Ress 1972 auf dem Institutskolloquium “Judicial Settlement” (Foto: MPIL)

Mosler äußerte Vorbehalte gegenüber den neuen Staaten des globalen Südens, den „Territorialverbänden mit ungesicherter eigener Lebensfähigkeit“,[75] die „das Bild der überkommenen Staatengemeinschaft“ „stören“.[76] Anti-kolonialistische Völkerrechtler waren zu dieser Zeit als Gastforscher am MPIL präsent. Vielleicht bereitete Mohamed Bedjaoui hier sogar seine Haager Vorlesung vor, in der er die bestehende Völkerrechtsordnung als eurozentrisch, neokolonial, imperialistisch und oligarchisch kritisierte.[77] Diese Kritik hielt Mosler offenbar nicht für erwähnenswert.

Die Befassung der Völkerrechtswissenschaft des neuen Millenniums mit dem Kolonialismus, die These seiner konstitutiven Bedeutung für das Völkerrecht als Rechtsordnung, die Bewältigung und Kritik der kolonialen Kontinuitäten in den Third-World Approaches to International Law (TWAIL), die Renaissance der Ideen der NIEO und das Aufkommen von Reparationsforderungen wegen Sklaverei und Kolonialismus – all dies konnte Mosler nicht vorhersehen. Der Eurozentrismus der Direktoren und der von ihnen geleiteten Institute entsprach dem damals und bis heute herrschenden Wissenschaftsstil.

6. Völkerrecht als Rechtsordnung 2024

Ist – über die eben geschilderten Einzelerträge hinaus – Bruns‘ und Moslers völkerrechtswissenschaftlicher Zugriff heute noch zeitgemäß? Oder ist die Frage nach dem Völkerrecht als Rechtsordnung obsolet?

a) Weltordnung im Umbruch

Seit Moslers Zeiten sind gut fünfzig Staaten und 4 Milliarden Menschen zur Völkerrechtsordnung hinzugestoßen, die den legitimen Anspruch der Mitgestaltung und der stärkeren Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse, Interessen und Werte erheben. Hinzukommen tausende internationale Organisationen, zivilgesellschaftliche Akteure und transnationale Unternehmen sowie kriminelle und terroristische Netzwerke. Im Jahr 2024 liegt das politische Programm der von China und Russland angeführten anti-liberalen Allianz einer „Neuen Weltordnung“ offen zutage.[78] Dieses Programm jener Akteure, die vom Völkerrechts-taker zum Völkerrechts-shaper mutierten, zielt auf Ordnung ab, und zwar auf eine neue.

Ist parallel hierzu eine völkerrechtswissenschaftliche Suche nach Ordnung überhaupt sinnvoll? Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Legitimitätsverlustes der geltenden Völkerrechtsordnung, der in veränderten Ideen, Interessen und Machtkonstellationen begründet liegt. Die Schlagworte der „post-westlichen“, „post-liberalen“ und post-Amerikanischen Ordnung kennzeichnen diese ideellen und materiellen Verschiebungen.[79]

b) Bruns und Mosler als praxisbegleitende und praxisermöglichende Völkerrechtswissenschaftler

In diesem Kontext des tiefgreifenden Umbruchs und der Neuorientierung besteht ein großer Bedarf an kritischen (irritierenden) völkerrechtswissenschaftlichen Untersuchungen, vielleicht mehr als an konformistischen (ermöglichenden) Beiträgen.[80] Demgegenüber weisen die Charakteristika der wissenschaftlichen Betrachtung von Bruns und Mosler auf eine Neigung zur zweitgenannten, konformistischen, praxis-begleitenden und -ermöglichenden Form von Völkerrechtswissenschaft hin: Erstens muss nach Bruns und Mosler „systemkonform“ argumentiert werden. Die argumentativen Bemühungen um die Geordnetheit des Völkerrechts sind rechts-„interne“ Betrachtungen. Sie nahmen bei Bruns die Form des „Nachweises“ der Lückenlosigkeit und des Aufzeigens („notwendiger“) allgemeiner Rechtsgrundsätze an.[81] Mosler verfolgte dasselbe Ziel mit Verweisen auf „Verfassungselemente“, auf zwingendes Völkerrecht[82] und mit einer dogmatischen Fundierung der Völkerrechtspersönlichkeit.[83] Bruns und Mosler sahen also als Aufgabe der Völkerrechtswissenschaftler*innen, die juristische innere Ordnung, die Rechtssystematik, durch Auslegung (Erklärung der Bedeutung des Normgehalts), durch Freilegung der den Einzelnormen zugrunde liegenden Rechtsprinzipien, durch das Aufzeigen „logischer“ Widersprüche, durch Lückenfüllung, also mit Hilfe des gesamten dogmatischen Werkzeugkastens, offenzulegen, zu bewahren und zu erhalten und dadurch jedenfalls ansatzweise erst herzustellen. Das zweite Charakteristikum ist Bruns‘ und Moslers‘ deutliche Anwendungsorientiertheit.

Beide Charakteristika, die wissenschaftliche Wahrung bzw. Herstellung von „Ordnung“ und „System“ und die Praxisorientierung scheinen ─ auf den ersten Blick ─ die Formulierung von Kritik (also die erstgenannte Dimension von Völkerrechtswissenschaft) zu erschweren. Zurecht bemängelt Sué González Hauck: „Die Vorstellungen von System, Ordnung und Kohärenz trugen wesentlich dazu bei, die Versuche der Dritten Welt, das Völkerrecht neu zu gestalten, als politisch zu kennzeichnen und ihnen vorgeblich neutrale und juristische Argumente entgegenzusetzen, die zufällig die westliche Dominanz bewahrten“.[84]

Die monierte konservierende und status-quo Privilegien-sichernde Tendenz des völkerrechtswissenschaftlichen Zugriffs im Stil von Bruns und Mosler kann mit einigen methodischen Ergänzungen abgemildert werden. Mit diesen Ergänzungen kann das Programm die aktuellen Bedürfnisse nach einer wirksamen, konstruktiven und sogar transformativen wissenschaftlichen Völkerrechtskritik befriedigen, wie sogleich darzulegen ist.

c) Überwindung und Vermittlung: Ordnung des Rechts als Bedingung der Möglichkeit wirksamer Rechtskritik

Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass jegliche Kritik am Völkerrecht (also etwa eine realistische, die konstitutionalistische, die postkoloniale, die marxistische, die ökologische oder neomaterialistische) zunächst von aussen an dieses Recht herangetragen wird. Die Verantwortung der Völkerrechtswissenschaft liegt darin, das Völkerrecht nicht zum bloßen „Spielball“ von Kritikbewegungen werden zu lassen. Es ist Aufgabe der Wissenschaftler*innen, Kritik so zu formulieren, dass sie „Transformationen aus dem Inneren des Rechts heraus anstößt, um den Widerspruch der rechtlichen Ordnung zu den Erfordernissen [globaler] sozial-ökonomischer Gerechtigkeit zu benennen und die Gewalt des Rechts hierdurch abzumildern“.[85]

An dieser Stelle kann die (von Bruns und Mosler geforderte) wissenschaftliche Herstellung von Rechtsordnung sinnvoll eine externe mit einer internen Kritik verbinden und damit die gegenwärtig notwendige Völkerrechtskritik schlagkräftig machen. Eine solche Verbindung (Vermittlung oder „Dialektik“) ist leistungsstärker als eine rein externe oder eine rein interne Rechtskritik. Eine rein externe Kritik am Völkerecht kann keine rechtsändernde Wirkung entfalten, weil sie das Recht gar nicht erreicht, wenn sie nicht in juristische Argumente überführt wird. Ausserdem sind extern gesetzte Maßstäbe letztlich austauschbar und erscheinen willkürlich. Eine rein interne Kritik wiederum hat keinen Biss, weil sie ihrerseits gesellschaftlich und historisch kontingent ist, innerhalb eines unhinterfragten Wertehorizonts verharrt („blinde Flecken“ hat) und tendenziell konservierende Züge aufweist. Am wirksamsten ist die Rechtskritik also, wenn sie zugleich intern und extern argumentiert.[86]

Ein rechts-interner wissenschaftlicher Zugriff auf das Völkerrecht verbindet mit geordnetem Recht die Erwartung einer tatsächlichen „Ordnung“ der Welt. Zwar ist umstritten, ob und wieviel Völkerrecht überhaupt zur Stabilisierung und Befriedung der internationalen Beziehungen beiträgt. Generationen politikwissenschaftlicher Vertreter einer „realistischen“, also primär machtpolitisch orientierten, Betrachtungsweise der internationalen Beziehungen bezweifeln dies.[87] Dem gegenüber stand und steht die „Frieden durch Recht“-Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und die Haager Friedenskonferenzen, die Gründung der Haager Akademie für Völkerrecht und den Völkerbund trug.[88] Die Bemühungen um geordnetes und dadurch ordnendes Recht sind alles andere als passé. Sie kehren wieder in der Fragmentierungsdebatte des frühen Millenniums und in der aktuellen Abarbeitung aller (traditionellen) Rechtsquellen in der International Law Commission (ILC). Insbesondere die Suche nach allgemeinen Prinzipien ist ein Evergreen: Die Draft conclusions der ILC zu general principles (2024) weisen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausdrücklich die Funktion der Erzeugung von Kohärenz des Rechts zu.[89]

Hiergegen ist der extern-kritische Einwand zu erheben: Eine derartige „Ordnung“ des Völkerrechts im Sinne der genannten Kohärenz bietet keine Garantie für die Fairness dieser Ordnung. Im Gegenteil, könnte man sagen: Die Wahrung des status quo dient den privilegierten Mitgliedern der „Rechtsgemeinschaft“– und dies sind aktuell, vereinfachend gesagt, die Staaten des Globalen Nordens und die Großmächte.[90]

Auf diese berechtigte externe Kritik versuche ich mit einer Vermittlung der externen und der internen Betrachtungsweise zu antworten: Erstens nützt Stabilität auch den kleinen, armen und schwachen Staaten (zumindest) insofern, als sie das nach historischer Erfahrung mit Umbrüchen oft einhergehende Chaos, Gewalt und Leid vermeiden. Deshalb stellt beispielsweise der Uti possidetis-Grundsatz eine Rechtsvermutung für die Unverrückbarkeit von Staatsgrenzen auf, egal wie willkürlich und gewaltsam diese zustande gekommen sind.[91]

Zweitens dürfte die Ordnung des Rechts vor allem wichtig sein für eine gewisse Form von Legitimität, die sich aus Schlüssigkeit (Widerspruchsfreiheit, auch in Bezug auf Wertungen) speist. Eine solche, eher formale Fairness kann unter Umständen die Akzeptanz durch die Rechtsadressaten erhöhen, und dies kann dann wiederum zur besseren compliance und damit zur Wirksamkeit des Rechts beitragen. Trotz der ihr innewohnenden konservativen Tendenz ist also der tiefere Grund der Suche nach Rechtsordnung, dass Inkohärenz im Recht einem Grundpostulat der Gerechtigkeit zuwiderläuft, wobei Gerechtigkeit – in Moslers Worten – “mit dem Begriff der Rechtsordnung notwendigerweise verbunden ist“.[92] Genau deshalb muss der aktuelle Vorwurf der „double standards“ ernst genommen werden. Dieser betrifft zwar in erster Linie die Rechtsanwendung, aber auch die Rechtserzeugung und -auslegung, an der die Völkerrechtswissenschaft besonders beteiligt ist. Wenn im Völkerrechtsprozess tatsächlich immer wieder mit zweierlei Maß zulasten der schwachen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft gemessen wird, wird die Völkerrechtsordnung insgesamt unglaubwürdig und ungerecht. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, den von Kritikern erhobenen Vorwurf der selektiven Völkerrechtsdurchsetzung durch westliche Staaten genau zu prüfen, die Situationen zu vergleichen und ggf. zu unterscheiden. Nur so kann ermittelt werden, wann der Vorwurf gerechtfertigt ist und wann er zwar opportunistisch und strategisch erhoben wird, aber letztlich unbegründet ist.[93] Die Suche nach dem „System“ kann hier also eine kritische Funktion erfüllen.

Auch die Praxisorientierung, die Bruns und Mosler (aus jeweils unterschiedlichen Motiven) verfolgten, kann zeitgemäß eingesetzt werden. Denn nicht nur eine genaue Kenntnis des positiven Rechts, sondern weitergehend eine Kenntnis der Rechtspraxis ist eine Vorbedingung von wirksamer Rechtskritik. Mit ähnlichen Erwägungen hat kürzlich Naz Khatoon Modirzadeh die Praxisferne der im Entlarvungs-Gestus verharrenden Third World Approaches kritisiert. Modirzadeh fordert eine konkrete Mitwirkung von TWAIL-Juristen in der internationalen Rechtspraxis, um tatsächlich zum Umbau des Völkerrechts im Interesse der Bevölkerung des globalen Südens beizutragen.[94]

Mit der eben beschriebenen Stärkung einer extern-kritischen Perspektive kann das wissenschaftliche Programm von „Völkerrecht als Rechtsordnung“ fit gemacht werden für 2024, ohne den Anwendungsbezug und die dogmatisch-interne Perspektive aufgeben zu müssen. Und wenn das Leben auf unserem Planeten nicht vorher sein Ende findet, bleibt die Ordnung des Rechts als Beitrag zur Ordnung durch Recht eine Aufgabe des MPIL für die nächsten 100 Jahre.

***

[1] Viktor Bruns, ‘Völkerrecht als Rechtsordnung I’, ZaöRV 1 (1929) 1-56 (8).

[2] Viktor Bruns, ‘Völkerrecht als Rechtsordnung II’, ZaöRV 3 (1933) 445-487.

[3] Hermann Mosler, ‘Völkerrecht als Rechtsordnung’, ZaöRV 36 (1976), 6-49 (7-8).

[4] George H.W. Bush, ‘Address Before a Joint Session of Congress on the Persian Gulf Crisis and the Federal Budget Deficit’, 11 September 1990, in: Public Papers of the Presidents of the United States: George H. W. Bush (1990, Book II), 1218-1222.

[5] Bruns 1929 (Fn. 1), 2.

[6] Bruns 1929 (Fn. 1), 2.

[7] Bruns 1929 (Fn. 1), 1.

[8] Bruns 1929 (Fn. 1), 10.

[9] Bruns 1929 (Fn. 1), 10.

[10] Bruns 1929 (Fn. 1), 26.

[11] Mosler 1976 (Fn. 3), 28.

[12] Bruns 1929 (Fn. 1), 54.

[13] Bruns 1929 (Fn. 1), 11, 22, 33 und passim.

[14] Bruns 1929 (Fn. 1), 8.

[15] Mosler 1976 (Fn. 3), 29.

[16] Mosler 1976 (Fn. 3),  28.

[17] Mosler 1976 (Fn. 3), 17, auch 19 u 23.

[18] Mosler 1976 (Fn. 3), 28.

[19] Mosler 1976 (Fn. 3), 23.

[20] Mosler 1976 (Fn. 3), 18.

[21] Mosler 1976 (Fn. 3), 23.

[22] Mosler 1976 (Fn. 3), 17.

[23] Mosler 1976 (Fn. 3), 19.

[24] Mosler 1976 (Fn. 3), 27.

[25] Mosler 1976 (Fn. 3), 29.

[26] Mosler 1976 (Fn. 3), 31.

[27] Mosler 1976 (Fn. 3), 31.

[28] Mosler 1976 (Fn. 3), 8.

[29] Felix Lange, Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption: Hermann Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945 (Springer 2017), 204 (Hervorhebung durch die Verf.).

[30] Hermann Mosler, Rückblick und Ausblick anläßlich des Eintritts von Karl Doehring und Jochen A. Frowein in die Institutsleitung und nach der Emeritierung von Hermann Mosler vom 27.2.1981, 36 ff., unveröffentlicht, zitiert in Lange (Fn. 29), 204.

[31] Susan Pedersen, ‘Back to the League of Nations’, The American Historical Review 112 (2007), 1091‑1117.

[32] Agatha Verdebout, Rewriting Histories of the Use of Force: The Narrative of ‘Indifference’ (CUP 2021).

[33] Declaration of the United Nations Conference on the Human Environment (UN Doc. A/CONF. 48/14/Rev. 1 of 16 Sept. 1972).

[34] Bruns 1929 (Fn. 1), 1 und passim.

[35] Mosler 1976 (Fn. 3), 24.

[36] Mosler 1976 (Fn. 3), 17.

[37] Mosler 1976 (Fn. 3), 23.

[38] Mosler 1976 (Fn. 3), 30.

[39] Mosler 1976 (Fn. 3), 31.

[40] Bruns 1929 (Fn. 1), 2, auch 31.

[41] Das Thema der „Geschlossenheit“ der Völkerrechtsordnung war vor dem Hintergrund der proliferierenden Schiedssrechtsprechung extrem praxisrelevant. Die Frage war u.a., ob die Schiedsgerichte mittels der Anwendung allgemeiner Prinzipien vorhanden „Lücken“ im positiven Recht schließen durften. Das grundlegende Werk hierzu, das vor Bruns‘ Aufsatz erschienen war, war Hersch Lauterpacht, Private Law Analogues (Longmans 1927 (reprint 1970)), 302, 305.

[42] Mosler 1976 (Fn. 3), 40.

[43] Bruns 1929 (Fn. 1), 9-11.

[44] Mosler 1976 (Fn. 3), 38 (Hervorhebung durch die Verf.).

[45] Bruns 1929 (Fn. 1), 12, 13, 22, 33, 54; Mosler 1976 (Fn. 3), 40-41.

[46] Bruns 1929 (Fn. 1), 7.

[47] Mosler 1976 (Fn. 3), 31, 32, 35.

[48] Mosler 1976 (Fn. 3), 47.

[49] Mosler 1976 (Fn. 3), 31.

[50] Mosler 1976 (Fn. 3), 14.

[51] Bruns 1929 (Fn. 1), Vorwort 1929, IV.

[52] Bruns 1927, Archiv MPIL, bei Philipp Glahé.

[53] Mosler, Rückblick und Ausblick (Fn. 30).

[54] Für die EU: Gemeinsamer Standpunkt 2003/651/GASP v. 12. September 2003, ABl. 2003, L 229, S. 42; Beschluss 2003/646/EG v. 12. Sept. 2023, ABl. 2003, L 229, S. 22.

[55] Ich danke Alexandra Kemmerer für diesen Hinweis.

[56] Mosler 1976 (Fn. 3), 12-13.

[57] Mosler 1976 (Fn. 3), 12.

[58] Mosler 1976 (Fn. 3), 13.

[59] Ulrich Fastenrath, Lücken im Völkerrecht (Duncker und Humblot 1991), 245.

[60] IGH, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Gutachten v. 22. Juli 2010, ICJ Reports 2010, 403 ff (Rn. 56).

[61] Annuaire IDI 35 (1929), 298-300.

[62] vgl. Art. 15 Abs. 8 Völkerbundsatzung v. 28 Juni 1919 (108 LNTS 188); Bruns 1929 (Fn. 1), 40-50.

[63] vgl. demgegenüber Paul Guggenheim, Der Völkerbund: Systematische Darstellung seiner Gestaltung in der politischen und rechtlichen Wirklichkeit (B. G. Teubner 1932), 273-274 zur neuen „Völkerbundsmethode“.

[64] Joseph Kunz, ‘The Swing of the Pendulum: from Overestimation to Underestimation of International Law’ AJIL 44 (1950), 135-140 (136-37); s. auch Robert de Traz, L’esprit de Genève (Bernard Grasset 1929).

[65] Edward H. Carr, The Twenty Years‘ Crisis, 1919-1939: An Introduction to the Study of International Relations (2. Aufl., MacMillan 2001 (orig. 1946)), 29-31; Wilhelm Grewe, der sein Hauptwerk mit Hilfe der Bibliothek des Kaiser Wilhelm Instituts verfasst hatte, geißelte die „normativistische Hypertrophie dieses Völkerrechts“ der Zwischenkriegszeit, die im Strudel des zweiten Weltkriegs versank (Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (2. Aufl., Nomos 1988), 717.

[66] Hermann Mosler, ‘Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte’, ZaöRV 22 (1962), 1-48.

[67] Hermann Mosler, ‘The international society as a legal community’, in: The Hague Academy of International Law Collected Courses/Recueil des Cours Volume 140 (III/1973), 1-320.

[68] Mosler 1976 (Fn. 3), 37.

[69] IGH, Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem, Gutachten v. 19. Juli 2024, Rn. 233, für den Kontext der Besatzung. https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-adv-01-00-en.pdf

[70] Mosler 1976 (Fn. 3), 36.

[71] Rosalyn Higgins, The Development of International Law through the Political Organs of the United Nations (Oxford University Press 1963); Richard Falk, The Status of Law in International Society (Princeton UP 1970), 177: “from consent to consensus”.

[72] UN, GV Resolution 3201 (S-VI), 1. Mai 1974: Declaration on the Establishment of a New International Economic Order, sowie UN, GV Resolution 3202 (S-VI), 1 Mai 1974: Programme of Action.

[73] Mosler 1976 (Fn. 3), 23 zu UN, GV Resolution 3281, 12. Dezember 1974.

[74] Dominique Carreau et al, ‘Chronique du droit international économique‘, Annuaire Français de droit international 21 (1975), 648-700 (648-50).

[75] Mosler 1976 (Fn. 3), 23.

[76] Mosler 1976 (Fn. 3), 19.

[77] Mohammed Bedjaoui, ‘Non-alignment et droit international‘, Collected Courses of the Hague Academy of International Law 151 (1976), 337-456 (378-384 und passim).

[78] Zheping Huang, ‘Chinese President Xi Jin Ping has vowed to lead the “new world order”’, QUARTZ, 22 February 2017. https://qz.com/916382/chinese-president-xi-jinping-has-vowed-to-lead-the-new-world-order,  zuletzt besucht 16. September 2024. Siehe auch: Joint Statement by the Foreign Ministers of China and Russia on Certain Aspects of Global Governance in Modern Conditions of 23 March 2021, https://www.mid.ru/ru/foreign_policy/news/1418041/?lang=en; Joint Statement of the Russian Federation and the People’s Republic of China on the International Relations Entering a New Era and the Global Sustainable Development of 4 February 2022, http://www.en.kremlin.ru/supplement/5770; Joint statement between the People’s Republic of China and the Russian Federation on deepening the comprehensive strategic partnership of coordination for a new era on the occasion of the 75th anniversary of the establishment of diplomatic relations between the two countries of 16 May 2024, https://www.chinanews.com.cn/gn/2024/05-16/10217948.shtml (auf Chinesisch), http://kremlin.ru/supplement/6132 (auf Russisch).

[79] Oliver Stuenkel, Post-Western World: How Emerging Powers are Remaking Global Order (CUP 2016); G. John Ikenberry, ‘The End of Liberal International Order?’, International Affairs 94 (2018), 7-23; Alexander Cooley and Daniel Nexon, Exit from Hegemony: the Unraveling of the American Global Order (OUP 2020).

[80] Diese Dichotomie ist natürlich eine starke Vereinfachung. Viele rechtswissenschaftliche Beiträge weisen beide Dimensionen auf. Auch besagt meine Zuspitzung keinesfalls, dass aktuell kein Bedarf an praxisbegleitender Wissenschaft besteht.

[81] Bruns 1929 (Fn. 1), 27 und passim.

[82] Mosler 1976 (Fn. 3), 31 und passim.

[83] Mosler 1976 (Fn. 3), 21-23.

[84] Sué Gonzáles Hauck, ‘Systemerhaltung durch Systematisierung: Lehrbücher, allgemeine Kurse und Kodifikationen im Völkerrecht als politische Projekte’, Archiv des Völkerrechts 62 (2024), 3-29 (26). Ich folge dieser Beobachtung darin, dass Völkerrechtswissenschaft nicht vorgeben sollte, „neutral“ oder „unpolitisch“ zu sein, zumal sie es an vielen Stellen gar nicht sein kann.

[85] Andreas Fischer-Lescano, ’Verteilungsfragen im Weltgesundheitssystem’ in: Anne Peters, Eva-Maria Kieninger, Stephan Hobe (Hrsg.), Koloniale Kontinuitäten im internationalen Recht: Berichte der DGIR 52 (CF Müller 2024), 177-213 (209), in Anlehnung an Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen (Suhrkamp 2014), 60.

[86] Zur Notwendigkeit einer Verbindung von rein interner (immanenter) und externer (transzendenter) Rechtskritik Tatjana Sheplyakova, ‘Prozeduralität des Rechts: Zu den Bedingungen immanenter Rechtskritik’, Kritische Justiz 54 (2021), 155-164 (155-56); Janne Mende, Der Universalismus der Menschenrechte UTB 2021), 186-193.

[87] Jack Goldsmith and Eric A. Posner, The Limits of International Law Fifteen Years Later, Chicago Journal of International Law 22 (2021), 112-127; Carlo Masala, Weltunordnung (3. Aufl., Beck 2022).

[88] Siehe nur aus der Präambel der Satzung des Völkerbundes vom 19. Juni 1922: „In order to (…) achieve international peace (…) by the firm establishment of the understandings of international law as the actual rule of conduct among Governments (…)”. Aus der Literatur Marcus M. Payk, Frieden durch Recht?: Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg (De Gruyter Oldenbourg 2018); Sarah Jäger und Wolfgang S. Heinz (Hrsg.), Frieden durch Recht – Rechtstraditionen und Verortungen (Springer VS 2020).

[89] ILC, ‘General principles of law, Draft conclusions’, ILC 74th Session, UN Doc. A/CN.4/L.982, 12 May 2023 (adopted on first reading); ‘Report on the work of the seventy-fourth session’, ILC 74th Session, UN Doc. A/78/10, 2023, Rn. 30-41, Conclusion 10 Abs. 2: “General principles of law contribute to the coherence of the international legal system.”

[90] Siehe Fn. 84.

[91] Anne Peters, ‘The Principle of “Uti Possidetis Juris”: How Relevant is it for Issues of Secession? ’ in: Christian Walter, Antje von Ungern-Sternberg, und Kavus Abushov (Hrsg.), Self-Determination and Secession in International Law (OUP 2014), 95-137.

[92] Mosler 1976 (Fn. 3), 32.

[93] Anne Peters, ‘The Russian Invasion of Ukraine: An Anti-Constitutional Moment in International Law?’ Posnan Journal of Law, Economics, and Sociology/Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 86 (2024), 5-36 (23-27).

[94] Naz Khatoon Modirzadeh, ‘“Let Us All Agree to Die a Little”: TWAIL’s Unfulfilled Promise’, Harvard International Law Journal 65 (2023), 79-131 (126, 131).

2 Kommentare

  1. Pingback: Völkerrecht im Radio. Marianne Grewe-Partsch interviewt das Institut 1966 – MPIL100

  2. Pingback: Hermann Mosler – der Befreier – MPIL100

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert