Hermann Mosler – der Befreier

Konrad Adenauer (2. v. l.) und Robert Schuman (3. v. r.) im französischen Außenministerium bei der Unterzeichnung des Vertrages zur Gründung der EGKS am 19. März 1951 (Foto: Getty Images)

1951 befreite Hermann Mosler das deutsche juristische Denken transnationaler Phänomene aus den Fesseln des staatsrechtlichen Denkens. Medium der Befreiung war die Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV), Anlass der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).[1]

Konkret legte Mosler einen Weg frei, das Gemeinschaftsrecht, jenseits des staatsrechtlichen Dualismus von Landesrecht und Völkerrecht[2], als eine neue und neuartige Rechtsordnung in föderalen und verfassungsrechtlichen Kategorien zu denken. Er zeigte, dass Schumans und Adenauers politischer Wille zu einer völkervertraglich verfassten Föderation souveräner Staaten kein juristisches Paradoxon war, sondern vielmehr ein Weg in eine bessere Zukunft. Das verlangte allerdings, staatsrechtliche Dogmen zu sprengen.

Sprengen ist ein Begriff Moslers (S. 24), auch für seine eigene Arbeit.[3] Eine solche performative Rechtswissenschaft ist, so Mosler, wissenschaftsadäquat und sogar geboten. Denn zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft gehört, politische Verbände „zu regeln“,     „den

Hermann Mosler und das Ehepaar Freudenberg anlässlich der Eröffnung des neuen Institutsgebäudes, 1954[4]

Ausgleich der gesellschaftlich wirksamen Interessen zu fördern“ und dabei „Integration“ voranzubringen (S. 37). Mosler konzipiert das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Gesellschaft letztlich als dialektisch. Zum einen muss „die Rechtswissenschaft dem gesellschaftlichen Faktum folgen“, dem „Substrat der rechtlichen Konstruktion“, zum anderen soll sie förderungswürdigen gesellschaftlichen Dynamiken einen Weg bahnen (S. 37). Moslers Beitrag ist ein Werk des rechtswissenschaftlichen Konstruktivismus, auch wenn er es nicht so reflektierte.

Moslers Sprengung bleibt nach 70 Jahren unvollständig, denn der staatsrechtliche Zugang prägt weiter Teile des deutschen Europarechtsdenkens. Gewichtige Stimmen konzipieren das Unionsrecht als ‚Staatsrecht III‘, als ‚delegiert‘ oder als kreisend um die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts. So bleibt Moslers ZaöRV-Beitrag aktuell, selbst wenn der EGKS-Vertrag wenig erfolgreich war, am 23. Juli 2002 erlosch und bereits die Römischen Verträge auf seinen Leitbegriff verzichteten: die Überstaatlichkeit (supranationalité).

Die Fesseln

Die staatsrechtlichen Fesseln, aus denen Mosler das deutsche öffentlich-rechtliche Denken befreite, zeigen plastisch zeitgenössische Aufsätze in der ZaöRV, etwa die Carl Bilfingers. Ihn kennzeichneten eine tiefe Prägung durch den Wilhelminismus, eine enge Verbindung zu Carl Schmitt und anderen Exponenten etatistischen Denkens, eine bekennende NSDAP-Mitgliedschaft und, dank dieser credentials, sein vorheriges Wirken im Direktorenamt des Kaiser-Wilhelm-Instituts. Insofern markiert dieser Blogbeitrag eine Bruchstelle in der Institutsgeschichte.[5]

Deutlich werden die Fesseln in Bilfingers Aufsatz „Friede durch Gleichgewicht der Macht?“, mit dem Bilfinger 1950 die ‚Abhandlungen‘ der ZaöRV wiederbelebt. Ich habe den tieferen Sinn vieler Passagen dieses gewundenen Beitrags nicht wirklich verstanden, entnehme ihm aber eine Kernaussage: Die Westalliierten sollten zwecks einer stabilen europäischen Friedensordnung mit dem besiegten Deutschland so umgehen wie die Heilige Allianz mit dem besiegten Frankreich auf dem Wiener Kongress.

Die Vier Mächte machten keinen solchen Schritt auf Deutschland zu, wohl aber Frankreich auf die Bundesrepublik. Der war letztlich viel größer und sollte auch zu einem viel größeren Erfolg führen. Frankreich erklärt sich mit der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 bereit, gemeinsam mit Deutschland den Weg in eine gemeinsame Föderation aufzunehmen, womit es von seinem ursprünglichen Plan einer dauerhaften Schwächung Abstand nahm (auf amerikanischen Druck). Adenauer erblickte die Chance und machte das Gelingen des Schuman-Plans zu einem Kernanliegen deutscher Außenpolitik.

Es entsprach dem Selbstverständnis der ZaöRV, dieses Projekt prominent zu besprechen, eben durch Bilfinger als Direktor des Instituts.[6] Auch in diesem Aufsatz habe ich den Gedankengang nicht wirklich verstanden. Mir scheint, dass er die Praktikabilität des Schuman-Plans an die Anerkennung eines Vorbehalts knüpft: Es muss den teilnehmenden Staaten eigenmächtiges Handeln erlaubt sein, wenn sie ihre Lebensinteressen betroffen sehen. Ein heutiges Äquivalent heißt ‚Verfassungsidentität‘.

Die Befreiung Moslers

Walter Hallstein, Jean Monnet und Konrad Adenauer in Bonn, 1951[7]

Hermann Mosler schenkt Bilfingers Bemühen um den Schuman-Plan keine Zeile. Das Nachwuchstalent aus dem Berliner Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht kannte sich aus, da Teil der deutschen Verhandlungsdelegation. Das Gelingen des Schuman-Plans war ihm eine „Herzensangelegenheit“.[8] Damit bezog er Position, denn anderen galt der Plan als „Landesverrat“, als Kniefall „vor der amerikanischen Finanzoligarchie“, aber auch als die „Mitteleuropa-Konzeption der deutschen Imperialisten von 1914“.[9] So behandelt Moslers Aufsatz aus einem tiefen Anliegen heraus ein großes und umstrittenes Thema, und das mit enormer Sachkenntnis, politischer Peilung und juristischer Schlagkraft. Das sind die Zutaten großer Beiträge.

Moslers juristisches Denken gilt als ‚pragmatisch‘. Zumindest in diesem Aufsatz kann man es genauer als ‚situativ‘ kennzeichnen: Es lebt aus dem Verständnis der politischen Lage, bezieht Position und wirkt auf sie ein. Die Lage ist Moslers Aufsatz nichts Äußeres, das er, wie viele dogmatische Beiträge, mit ein paar einleitenden Sätzen abhandelt, um sich dann der Pflege des umfriedeten dogmatischen Gartens zu widmen. Die genaue Erfassung der Lage ist vielmehr elementar für die rechtwissenschaftliche ‚Qualifizierung‘ des Vertrags, weit wichtiger als dessen Bestimmungen. So widmet Mosler über die Hälfte seines Beitrags der Lage, dargestellt anhand der politischen Interessen, Konflikte, Positionen, Projekte und Prozesse der Konsensbildung (S.1–23, 27–29). Mosler versteht dies als eine Beschreibung der „Entstehung“, heute spricht man von process tracing.

Gerhard Anschütz und Hermann Mosler am Institut, 1965[10]

Mosler versteht die Lage, für die der EGKS-Vertrag zu entfalten ist, im Grunde wie Schuman: Der Friede in Europa braucht eine neue Form internationaler Ordnung. Allerdings verzichtet Mosler auf den Begriff der Solidarität, dem in der Schuman-Erklärung eine Schlüsselrolle zukommt. Schuman denkt die europäische Einigung wohl mit Durkheims Soziologie solidarischer Vergesellschaftung, ein Ansatz, den Léon Duguit ins Verfassungs- und Verwaltungsrecht und Georges Scelle ins Völkerrecht einbrachten. Das fehlt bei Mosler, ebenso wie jeder Hinweis auf den ähnlich ausgerichteten sozialdemokratischen Europaföderalismus seines früheren Institutskollegen Hermann Heller oder auf den republikanischen Föderalismus des Manifests von Ventotene. Ich frage mich, ob der heutige deutsche Europarechtsdiskurs vertrauter mit dem Prinzip europäischer Solidarität wäre, hätte Mosler, mit Schuman, die europäische Integration als ein Projekt solidarischer Vergesellschaftung begriffen.

Mosler fokussiert ab dem allerersten Satz allein auf die „Große Politik“, also die Politik um Krieg und Frieden, die von einer kleinen Gruppe mächtiger Personen geprägt wird. Er präsentiert die Montanunion als Antwort auf die Dysfunktionalität des UN-Sicherheitsrats (S. 2). Es fehlt damit jeder Hinweis nicht nur auf Fragen der solidarischen Vergesellschaftung, sondern insgesamt auf die sozialen Konflikte der Zwischenkriegszeit, die zu autoritären, totalitären und damit oft aggressiven Regimen geführt hatten, ohne die der Zweite Weltkrieg und der nachfolgende Ost-West-Konflikt kaum zu verstehen sind.

Mosler blendet somit Wichtiges aus, was aber seiner Scharfsichtigkeit nicht schadet. Letztere zeigt seine ungewöhnliche Artikulation der Lage. Es gehe 1951 nicht darum, Westeuropa zu integrieren, so das übliche Verständnis, sondern die Montanunion solle vielmehr seine Desintegration verhindern:

Die Verflechtung der Wirtschaftsinteressen soll die tatsächlichen Voraussetzungen schaffen, die eine erneute politische Desintegration der zur Zeit durch die gemeinsame Bedrohung seitens des Ostblocks verbundenen Mitgliedstaaten unmöglich machen soll.“ (S. 23)

Damit artikuliert er das window of opportunity der ersten Sattelzeit. Dieses Fenster öffnet sich durch, erstens, die militärische, ökonomische, politische und weltanschauliche Abhängigkeit der westeuropäischen Staaten von den Vereinigten Staaten von Amerika, zweitens das amerikanische Bestreben, die europäischen Staaten in ihrer Einflusszone zu föderieren, und drittens die Wahrnehmung sowjetischer Bedrohung. Diese Lage impliziert den Verlust der Weltmachtstellung europäischer Staaten, aber auch eine gewisse Gemeinsamkeit ihrer Gesellschaftsordnung als Teil des sich formierenden geopolitischen Westens (S. 9). Dieser Machtverlust, dieser Gleichklang, diese Abhängigkeit, diese US-Politik und diese militärische Konfrontation bestimmen die Lage, aus der heraus sich die Montanunion versteht. Mosler präsentiert den Schuman-Plan zwar als ein autonomes französisches Projekt, das aber dieser Lage zu verdanken ist (S. 5).

Die ‚Große Politik‘ reagiert mit diversen Projekten auf diese Lage. Sie alle genügen nicht, denn sie bleiben in den Fesseln geschlagen, die in Deutschland das staatsrechtliche Denken artikuliert. Erst der Schuman-Plan „verläßt diese Anschauungswelt“ (S. 8) und bietet, so Mosler, den einzig brauchbaren Weg zu einer belastbaren Friedensordnung. So wiesen Moslers weltpolitischer Realismus und katholischer Idealismus denselben Weg.

Der EGKS-Vertrag verlässt die Anschauungswelt des überkommenen Völkerrechts und damit des überkommenen Staatsrechts. Mosler erschließt dies rechtswissenschaftlich mittels einer kategorialen Verortung seines Wesens im Lichte der Lage. Diese Verortung erfolgt ausgehend vom „Wesen internationaler Zusammenschlüsse im derzeitigen Stadium der Völkerrechtsentwicklung“ (S. 25–26). Eine solche begriffsanalytische „Wesensschau“ juristischer Phänomene konstituiert den Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung und erfolgt selbstredend mit eigenen Methoden. Mosler reflektiert also die politische Lage, operiert aber unter der Prämisse rechtswissenschaftlicher Autonomie. Solche rechtswissenschaftlichen Operationen sind politisch und gesellschaftsweit bedeutsam, weil sie die soziale Ordnung eigenständig entwickeln (S. 37).

„Der erste Schritt zur Einheit Europas“. Schaubild zur Gründung der EGKS[11]

Mosler bestimmt die „Anschauungswelt“, aus der sich das „Wesen“ internationaler Zusammenschlüsse ergibt, mit dem Begriff der souveränen Gleichheit der Staaten (S. 28).

Seine Befreiung wählt nun nicht den einfachen Weg, staatliche Souveränität als unumschränkte Herrschaftsmacht zu definieren und dann an den scharfen Klippen der Lage als obsolet kentern zu lassen. Vielmehr deutet er den Grundsatz im Lichte der Satzung der Vereinten Nationen, welche diese Lage reflektiert und gleichwohl die souveräne Gleichheit als Grundsatz postuliert (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta). Was ist also das befreiende Neue? Mosler fixiert den Schlüsselgedanken in der Lageanalyse. Es ist der Schritt, „ein zentrales wirtschaftliches Problem mit organisatorischen Mitteln zu lösen, die bisher nur dem Zusammenschluss selbständiger Länder zu einem Bundesstaat gedient haben“ (S. 8).

Das erste bundesstaatliche Element findet sich in der öffentlichen Gewalt, die der Vertrag begründet. Die Hohe Behörde, ein Gemeinschaftsorgan, kann einseitig verpflichtende Entscheidungen erlassen, die innerstaatlich gegenüber Behörden wie Privaten wirken. Bei Ungehorsam müssen mitgliedstaatliche Behörden die Entscheidungen vollstrecken, ohne dass es auf nationales Recht dabei ankäme. Dies impliziert die unmittelbare und vorrangige Wirkung der Entscheidungen und damit des Gemeinschaftsrechts, analog einem Bundesrecht (S. 44). Dagegen beanspruchen selbst Entscheidungen des Sicherheitsrats keine innerstaatliche Wirkung.

Die zweite Innovation kreist um die Unabhängigkeit des entscheidenden Organs. Nun setzt bereits der Begriff der internationalen Organisation eine gewisse Verselbständigung gegenüber ihren Mitgliedern voraus. Der Schuman-Plan übertrifft aber diese Verselbständigung, wie der Schlüsselbegriff der Überstaatlichkeit der Hohen Behörde verdeutlicht (‚supranationalité‘, Art. 9 EGKS-Vertrag). Überstaatlichkeit erfordert, dass die Behörde unabhängig entscheidet.

Diverse Bestimmungen dienen solcher Unabhängigkeit. Dazu zählt, dass die Behörde ein handlungsfähiges Gremium ist, per Mehrheit entscheidet und ihre Amtsträger weisungsfrei sind. Zudem müssen sich weder das Organ noch seine Amtsträger vor nationalen Institutionen verantworten, sondern nur vor der EGKS-Versammlung, der Keimzelle des Europäischen Parlaments. Dagegen unterliegen die Entscheidungsträger des UN-Sicherheitsrats staatlichen Weisungen und Verantwortungsstrukturen.

Das dritte Moment ist die Bedeutung der supranationalen Kompetenz. Die Entscheidungen der Hohen Behörde sollen Relevanz für politische Fragen im Sinne der ‚Großen Politik‘ erlangen, für Fragen von Krieg und Frieden. Deshalb hat die Gemeinschaft ein eigenes politisches Gewicht und ist weit mehr als nur eine Verwaltungsunion, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert existierten.

Mosler sieht das Neue, denkt es aber nicht, wie Hallstein und Monnet, als ein werdendes Staatsrecht.[12] Nach seinem Verständnis zielt die ‚Gemeinschaftsidee‘ vielmehr auf eine per Vertrag verfasste Föderation souveräner Mitgliedstaaten (S. 32) und sprengt damit die bisherige Anschauungswelt. Es bleibt die Frage, wie die Rechtswissenschaft diese Sprengung begrifflich nachvollziehen kann.

Die Sprengung

Walter Hallstein (stehend) hält 1962 den Vortrag „Die EWG politisch gesehen“ am Institut. Sitzend: Hermann Mosler, Hans Dölle[13]

Der EGKS-Vertrag etabliert, was staatsrechtlichem Denken ein Paradoxon ist: eine nicht-staatliche und staaten-überspannende haute autorité, also öffentliche Gewalt ohne Staatlichkeit. Mosler reflektiert das nicht im Lichte seiner früheren völkerrechtstheoretischen Konzeption, die Bilfingers Denken nahestand.[14] Man mag das so verstehen, dass mit dem EGKS-Vertrag für das juristische Denken ein neuer Tag begann und, weil die Eule der Minerva eben erst abends fliegt, die Zeit nicht reif war für eine Verfassungstheorie nicht-staatlicher Föderationen. Man kann Moslers Enthaltsamkeit aber auch so deuten, dass er sein früheres Denken nicht konfrontieren wollte.

Moslers rechtswissenschaftlicher Sprengakt implementiert keine politiktheoretische Revolution, sondern den politischen Sprengakt des EGKS-Vertrags, der den Weg in eine verfasste Föderation souveräner Staaten freimachen sollte. Moslers rechtswissenschaftlicher Sprengakt ist darauf kalibriert: Er hat einen juristischen Weg zu dem vermeintlichen juristischen Paradoxon einer verfassten Föderation souveräner Staaten frei zu legen, und gerade nicht zu einem europäischen Bundesstaat. Ginge es um Bundesstaatlichkeit, „so mag dieser Gedanke politisch revolutionär sein, eine schöpferische Rechtskonstruktion indes ist er nicht“ (S. 33).

Diese Sprengung soll also keiner europäischen Integration die Bahn brechen, wie sie etwa Friedrich Naumann nach dem Ersten Weltkrieg propagiert hatte. Naumann zielte auf „die Bildung von ‚Mitteleuropa‘ als des vierten Groß-Staates neben dem Britischen Reich, Rußland und den Vereinigten Staaten“ (S. 45). Das erscheint Mosler als der falsche Weg.

Wenn Staatlichkeit nicht mehr die politische Leitidee ist, dann muss die Rechtswissenschaft ihre überkommene Anschauungswelt verlassen. Nur so kann sie das politische Projekt des EGKS-Vertrags adäquat begleiten, das, als eine „engere Gemeinschaft, die in der Völkerrechtsordnung geläufigen Formen und Einrichtungen sprengt“ (S. 24). Zu konzipieren ist eine politische Föderation (S. 32), die nicht unter dem Telos künftiger Staatlichkeit steht.

Um die alte Anschauungswelt zu verlassen, aber gleichwohl brauchbare Bausteine in die neue Anschauungswelt mitzunehmen, bedarf es einer genau kalibrierten Sprengung. Mosler sprengt deshalb allein das überkommene Dogma der unteilbaren Souveränität (S. 32), indem er sie kurzum als teilbar und partiell fusionierbar setzt (S. 12, 24, 34, 39). So wird es konzeptionell möglich, dass die EGKS-Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität durch die nationalen Ratifikationen fusionieren und so überstaatliche öffentliche Gewalt begründen.

Mosler reflektiert diesen Prozess mit dem Begriff der Föderation.[15] Dies liegt nahe, denn seit den Federalist Papers sind die Debatten über die Teilbarkeit von Souveränität und über das Wesen von Föderationen eng verbunden. Allerdings rekurriert Mosler nicht auf diese verfassungstheoretische Tradition. Ihm reicht es, dass das juristische Denken mit diesem Schritt Schumans ‚föderale Gemeinschaftsidee‘ grundbegrifflich nachvollziehen kann. Angesichts des offensichtlichen demokratischen Willens bedarf es keiner weiteren theoretischen Legitimation. So konzipiert Mosler das Gemeinschaftsrecht als ein föderales Recht, das sich als Ausdruck fusionierter Souveränität kategorial von einem Staatsrecht wie vom internationalen Recht unterscheidet (vgl. nur S. 9, 24, 34).

Das ist ein großer Schritt, grundbegrifflich wie politisch. Es ist bemerkenswert, dass Mosler ihn nicht nur mit den entsprechenden Positionen in der ‚Großen Politik‘ absichert, sondern zudem auf die öffentliche Meinung rekurriert: Sie wolle diesen Schritt zur Teilbarkeit von Souveränität und deren Fusion in einem nicht-staatlichen Verband (S. 13). Damit dokumentiert er, dass seine grundbegriffliche Arbeit nicht die isolierte Meinung politischer Eliten, sondern eine gesellschaftsweite Auffassung nachvollzieht.

„Einigt endlich Europa“. Pro-europäische Demonstration anlässlich der Konferenz der Außenminister der Montanunion in Baden-Baden, 1953[16]

Der Fusionsgedanke ist folgenreich. So ist in der neuen Anschauungswelt die überstaatliche öffentliche Gewalt nicht mehr, wie in der alten, als eine Beschränkung der mitgliedstaatlichen Souveränität zu verstehen. Denn sie ist ein Produkt der fusionierten mitgliedstaatlichen Souveränitäten, also nichts ihnen Gegenüberstehendes, kein ‚Anderes‘, sondern vielmehr sie selbst in einem neuen Zustand. Just deswegen steht Akten der EGKS kein Souveränitätsvorbehalt entgegen.

Es bleibt die Frage, ob dieser grundbegriffliche Schritt in eine teilbare Souveränität, der eine nichtstaatliche Föderation ermöglicht, elementare Errungenschaften verrät. Die Frage beschäftigt bis heute das europäische Verfassungsrecht. Die heutigen Zweifler fokussieren sich auf die Volkssouveränität und bestreiten, dass die Union ohne ein souveränes, sich selbst bestimmendes Unionsvolk als demokratisch gelten kann. Mosler hat keine Geduld für solche Positionen. Deren Vorstellungswelt erscheint ihm defizitär, weil idiosynkratisch. Es sei eine spezifisch deutsche Blickverengung, Föderation mit Bundesstaatlichkeit gleichzusetzen: „Der Gedanke an die deutsche Vergangenheit der letzten anderthalb Jahrhunderte legt ihm [d.h. dem deutschen Betrachter] die Vorstellung nahe, überstaatliche Zusammenschlüsse nur in etatistischer Form sehen zu können. […. Dies] ist den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft fremd“ (S. 33–34). Damit sieht Mosler den Weg frei, die Souveränität zu teilen und die EGKS als föderal zu begreifen.

Das Theorem der teilbaren und transnational fusionierbaren Souveränität sprengt so den Weg zu neuen begrifflichen Konstruktionen frei. Es erlaubt, die EKGS als Trägerin öffentlicher Gewalt zu konzipieren, die sie gegenüber ihren Gliedern und den Rechtsunterworfenen ausübt. Zur näheren Fassung dieser Gewalt nutzt Mosler bundesstaatliche Begriffe: Rechtserzeugung, Verwaltung und Rechtsprechung (S. 36). Dank seiner begrifflichen Grundoperation impliziert diese Qualifizierung keine Bundesstaatlichkeit. Heute ist es selbstverständlich, das gesamte Arsenal öffentlich-rechtlicher Begriffe auf die Union anzuwenden, ohne damit eine europäische Staatlichkeit zu implizieren. Moslers Beitrag steht am Anfang dieses Verständnisses überstaatlicher öffentlicher Gewalt.

Die Fusionierung der Souveränität für eine überstaatliche Föderation erfolgt durch einen völkerrechtlichen Vertrag. Mosler, seinem sprengfreudigen Impetus weiter folgend, qualifiziert dies als die „Vertragliche Errichtung eines verfassungsrechtlichen Teilgebildes“ (S. 32). Diese verfassungsrechtliche Qualifikation folgt zwanglos aus dem bisherigen Gedanken: Wenn die EGKS dank teilfusionierter Souveränitäten öffentliche Gewalt ausübt, dann klärt es die Rechtsnatur der diese Gewalt konstituierenden Grundbestimmungen, sie in verfassungsrechtlichen Kategorien zu begreifen.

Mehr noch: Da die neue Anschauungswelt demokratische Rechtsstaatlichkeit in Westeuropa schützen soll, ist es geradezu zwingend, ihr konstruktives wie kritisches Potenzial für den neuen Verband zu nutzen. Es entspricht dieser Grundentscheidung, die neue öffentliche Gewalt verfassungsrechtlich zu deuten, eben im Sinne der „notwendigen Bestandteile jeder gesellschaftlichen Ordnung“, die nun auch die EGKS erbringt.

Mosler ist umsichtig: Er unterscheidet den Begriff des Verfassungsrechts, den er adjektivisch für den EGKS-Vertrag verwendet, von dem der Verfassung, den er für den Übergang in eine europäische Staatlichkeit reserviert (S. 39). Damit bringt er zum Ausdruck, dass das, was er als ein verfassungsrechtliches Teilgebilde bezeichnet, nur in Ansätzen dem entspricht, was man im westlichem Erfahrungshorizont unter einer Verfassung versteht.

Mosler unterstreicht, das kritische Potential der verfassungsrechtlichen Rekonstruktion nutzend, die Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Weiterentwicklung. Obwohl er keinen republikanischen Föderalismus wie das Manifest von Ventotene vertritt, ist es auch für seinen Föderalismus offensichtlich, dass die EKGS-Versammlung zu einem Parlament auszubauen ist; er spricht sogar von einer europäischen Volksvertretung (S. 43). Die weitere Entwicklung hat zwar kein europäisches Volk generiert, wohl aber, so Art. 2 EUV seit 2009, eine europäische Gesellschaft, welche die Prinzipien des demokratischen Konstitutionalismus charakterisieren. Der Pfad von Moslers Aufsatz zu diesem Art. 2 EUV ist leicht zu ziehen.

Moslers Sprengung dient dem Weg in eine nicht-staatliche Föderation, ihr gilt seine Präferenz. Gleichwohl schließt er den Weg in eine europäische Staatlichkeit nicht aus. Mosler beschreibt die Schwelle in eine europäische Staatlichkeit mit einem Strauß von Gesichtspunkten, die sich um die Begriffe Macht und Schicksal gruppieren. Man kann zum einen Bundesstaatlichkeit aus dem Außenverhältnis erschließen: Europäische Bundesstaatlichkeit ist danach erreicht, wenn die Mitgliedstaaten zu einem einheitlichen politischen Schicksal dergestalt verbunden sind, dass sie gegenüber dritten Mächten eine Einheit darstellen (S. 35–36, 45). Man kann Bundesstaatlichkeit aber auch aus dem föderalen Verhältnis folgern: Danach liegt eine Staatswerdung vor, wenn ein Austritt eines Mitgliedstaats ihm ähnliche Schwierigkeiten bereitet wie der Austritt aus einem Bundesstaat (S. 39), weil die „Lebenssphären“ so eng verbunden sind (S. 44). Ein weiterer Gesichtspunkt ist, ob „die Gemeinschaft die Sezession im Sanktionsweg zu verhindern fähig“ ist (S. 44).

Betrachtet man diese Kriterien im Lichte der finanziellen ‚Nahtoderfahrung‘ griechischer Bürger aufgrund von Entscheidungen der Europäischen Zentralbank im Jahr 2015, der Konvulsionen des Vereinigten Königreichs im Zuge des Brexit, der Positionierung der Union im Ukrainekrieg, von Behauptungen, die Kommissionspräsidentin sei der (ja, der) vielleicht mächtigste Politiker Europas, so erscheint in Moslers Perspektive die Schwelle einer europäischen Staatswerdung in Sichtweite, wenn nicht gar schon erreicht.

Wo also stehen wir heute? Aus einer Distanz von mehr als 70 Jahren bringt mich Moslers Beitrag ins Grübeln über eine elementare Frage des europäischen Verfassungsrechts. Ich sehe darin den ultimativen Beweis seiner Aktualität.

***

Dieser Blogbeitrag beruht auf einem Aufsatz für die ZaöRV 4/2024 unter dem Titel Die Befreiung. Moslers europaföderale Sprengung des staatsrechtlichen Denkens.

[1] Hermann Mosler, Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Entstehung und Qualifizierung, ZaöRV 14 (1951), 1–45. Seitenzahlen im Text (S. X) beziehen sich auf diesen Beitrag.

[2] Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig: C.L. Hirschfeld 1899; Carl Schmitt, Über die zwei großen ‚Dualismen‘ des heutigen Rechtssystems. Wie verhält sich die Unterscheidung von Völkerrecht und staatlichem Recht zu der innerstaatlichen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht?, in: Mélanges Streit [Festschrift für Georgios Streit], Bd. 2, Athen: Pyrsos 1940, 315–328.

[3] Zur Selbstbeschreibung: Hermann Mosler, Begriff und Gegenstand des Europarechts, ZaöRV 28 (1968), 481–502, 500.

[4] Foto: MPIL.

[5] Zu Kontinuitäten von Bruns über Mosler bis zum heutigen Tage: Anne Peters, Völkerrecht als Rechtsordnung: 1929 – 1976 – 2024, MPIL100.de; Armin von Bogdandy/Philipp Glahé, Alles ganz einfach? Zwei verlorene Weltkriege als roter Faden der Institutsgeschichte,MPIL100.de.

[6] Carl Bilfinger, Vom politischen und nicht-politischen Recht in organisatorischen Kollektivverträgen. Schuman-Plan und Organisation der Welt, ZaöRV 13 (1950), 615–659.

[7] Foto: BArch, B145 Bild-F000029-0035.

[8] Felix Lange, Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. Hermann Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945, Berlin: Springer 2017, 173.

[9] Nachweise siehe: Lange (Fn. 9), 177–178.

[10] Foto: MPIL.

[11] Foto: BArch B 285 Plak-022-011

[12] Jean Monnet, Les États-Unis d’Europe ont commencé: la communauté européenne du charbon et de l’acier. Discours et allocutions 1952 – 1954, Paris: Robert Laffont 1955; Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf: Econ 1969.

[13] Foto: MPIL.

[14] Vgl. seinen 1946 gehaltenen, Bilfinger gewidmeten Habilitationsvortrag: Hermann Mosler, Die Großmachtstellung im Völkerrecht, Heidelberg: Schneider 1949; dazu: Florian Kriener, Das Interventionsverbot in autoritären Kontexten. Hermann Moslers Intervention im Völkerrecht, MPIL100.de.

[15] Näher: Matteo Bozzon, Which Federalism for Europe? A Moslerian Path, MPIL100.de.

[16] Foto: BArch, B 145 Bild-F000812-0011/ Arntz. Prof.

 

Kategorie Blog

Armin von Bogdandy ist Direktor am MPIL. Armin von Bogdandy is Director at the MPIL.

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