Stefan Kroll ist Leiter der Abteilung für Wissenschaftskommunikation und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Institutionen“ am PRIF -  Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.

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Ein Grenzgebietler. Der Rechts-Sinologe Karl Bünger

No results found for ‘Rechts-Sinologie’” antwortet die Suchmaschine. Kann es sein, dass dieses Forschungsfeld, das auf produktive Weise Grundlagenforschung, Anwendungsorientierung und – seit weit über 100 Jahren – hohe politische Relevanz miteinander verbindet, nicht einmal versuchsweise als eigene rechtliche Teildisziplin beschrieben wurde? Offenbar. Einerseits ist die interdisziplinäre Rechtsforschung zu China ein hochspezialisiertes Feld. Andererseits bestand, wie dieser Blogbeitrag zeigen wird, bereits in den 1930er Jahren ein großes Interesse an dieser Forschung im Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie auch später im MPIL, wie der Beitrag von Robert Heuser in diesem Blog dokumentiert.

Ein Pionier der interdisziplinären Rechtsforschung zu China

Karl Bünger 1973 [1]

Ein Feld der Rechts-Sinologie steht methodisch für rechtsvergleichende und beziehungsgeschichtliche Ansätze. Beide sind in einem transkulturellen Kontext besonders anspruchsvoll. Die Herausbildung rechtlicher Normativität wird unter Einbeziehung sprachlicher, kultureller, sozialer und politischer Aspekte untersucht. Die angrenzenden Disziplinen werden als Ressource genutzt, um das Verständnis der Genese und die Wirkung von Recht zu vertiefen. Es ist Grundlagenforschung in einer ihrer besten Formen. Bezogen auf aktuelle Literaturen, leistet die interdisziplinäre Rechtsforschung zu China einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Rechtsübersetzungen und -transfers, Ungleichheit und (Post)Kolonialismus, Rechtspluralismus und Multinormativität. Bezogen auf die Debatten der 1930er bis 1950er Jahre, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird, stand diese Forschung unter einem hohen Begründungsdruck, als entweder rechtswissenschaftliche oder sinologische Forschung zu gelten.

Ein Pionier einer Rechts-Sinologie in Deutschland war Karl Bünger. Geboren 1903, absolvierte Bünger, nach einer Banklehre von 1924 bis 1927, ein Studium der Rechtswissenschaften und der Sinologie. Die Promotion erfolgte 1931 in Tübingen mit einer rechtsvergleichenden Arbeit mit dem Titel “Das Wirksamwerden der Willenserklärung nach deutschem und ausländischem Recht”. Bünger beschrieb die Erforschung der chinesischen Rechtsgeschichte als eine “Lebensaufgabe […]. Es ist dies ein Grenzgebiet zwischen Sinologie und Rechtswissenschaft.”[2]. Büngers bedeutendste Leistung auf diesem Gebiet war eine Monographie über die “Quellen zur Rechtsgeschichte der T’ang-Zeit” (von 618 bis 907 CE), die in den 1940er Jahren in Beijing entstand und dort 1946 erstmals erschien.[3] Eine überarbeitete und erweiterte Version wurde 1996[4] publiziert, was die anhaltende Bedeutung des Werks illustriert. Verstärkt wird dies durch eine chinesische Übersetzung im Jahr 2023. Im Vorwort zur Originalausgabe von 1946 werden die besonderen Herausforderungen deutlich, die mit einer solchen Arbeit verbunden sind: “Die Arbeit wendet sich sowohl an Juristen wie an Sinologen. Die Arbeitsmethoden und Gesichtspunkte beider Wissenschaften sind verschieden. Ich habe beiden gerecht zu werden versucht, unausbleiblich ist es aber, dass aus beiden Wissenschaftsgebieten jeweils Beanstandungen erhoben werden können.”[5] Bünger betrat nach eigenem Befinden “Neuland” und bemühte sich, dem sinologischen Bedürfnis nach sprachlicher Gründlichkeit und dem juristischen nach Präzision und “Schärfe” gleichermaßen zu entsprechen.

Zwischen den Disziplinen gefangen

Hauptstraße von Nanjing (1920er/30er). Arbeitsort von Karl Bünger (Foto: Bundesarchiv)

Da Bünger sich konsequent zwischen den beiden Disziplinen bewegte – er sich gewissermaßen bewusst und kunstvoll zwischen alle Stühle setzte – hatte er es schwer, langfristig eine gesicherte Position zu finden. Insbesondere nach seiner Rückkehr nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war dies so. Zunächst ist aber festzustellen, dass Bünger, diesen Schwierigkeiten zum Trotz, als Wissenschaftler in seinem interdisziplinären Feld hoch angesehen war. 1981 erschien anlässlich seines 75. Geburtstags eine Festschrift.[6] In einer Rezension hierzu bilanzierte der amerikanische Sinologe Brian E. McKnight, „[a]mong twentieth-century students of Chinese law, none has been more prolific over a longer span.“[7]

An den Kaiser-Wilhelm-Instituten für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie für ausländisches und internationales Privatrecht war Karl Bünger seit 1934 als Referent tätig. Schon 1937 ließ er sich allerdings für mehrjährige China-Aufenthalte von dieser Position beurlauben. Kurioserweise schrieb Bünger selbst tatsächlich in einem Lebenslauf: „1934 bis heute (mit zwei mehrjährigen Urlaubsreisen nach China) Referent an den Kaiser Wilhelm Instituten für internat. Recht”[8]. „Urlaubsreisen“ waren diese Aufenthalte aber keineswegs. Bünger wirkte als Justiziar (1937-38) und Rechtsberater (bis 1941) für den Otto-Wolff-Konzern in China, einem Unternehmen der Stahl- und Eisenindustrie. Von 1940 bis 1941 war Bünger Sekretär beim Verband für den Fernen Osten, von 1941 bis 1945 Rechtsberater an der Botschaft des Deutschen Reiches in Nanjing. Im akademischen Bereich weisen die Lebensläufe Tätigkeiten als Professor für europäisches Recht an Universitäten in Shanghai von 1942-1944 und von 1946-1947 aus.

Der deutsche Botschafter in Nanjing Heinrich Georg Stahmer (rechts) 1942 mit Wang Jingwei (mitte), Chef der antikommunistischen „Neuorganisierten Regierung der Republik China“, und dem italienischen Botschafter Francesco Maria Taliani de Marchio (links). Bild: gemeinfrei

Dies war die Zeit, in der Bünger sich als „Rechts-Sinologe“ entfalten und wichtige Netzwerke knüpfen konnte. Mit seiner Rückkehr nach Deutschland 1947 begann eine eher schwierige Phase. Bünger war ab 1. Mai 1933 Mitglied in der NSDAP geworden. In späteren Lebensläufen gab er an, darüber hinaus keine Funktionen und Ämter ausgeübt zu haben. Büngers Wikipedia-Eintrag gibt eine SA-Mitgliedschaft von 1933 bis 1934 an, sowie auch, dass Bünger nach dem Krieg 1947 zunächst im Repatriation Center in Ludwigsburg interniert wurde. Noch aus Ludwigsburg bemühte sich Bünger, seine Wiedereingliederung in eine sich im Neuaufbau befindende deutsche akademische Welt zu organisieren. Er stieß dabei auf einige Hindernisse, die zum einen mit stark begrenzten Mitteln, aber zum anderen vor allem mit seiner nicht eindeutigen disziplinären Zuordnung zusammenhingen.

Einen guten Eindruck darüber verschafft ein „sinologischer Briefwechsel”, den Bünger zwischen 1947 und 1951 mit verschiedenen Kollegen führte, die wie er auf der Suche nach einer neuen Anstellung waren oder über eine solche verfügten und daher vielleicht behilflich sein konnten.

Bünger ist in diesen Briefen um kein Urteil verlegen, was die Fähigkeiten und Passgenauigkeiten anderer Sinologen für bestimmte zu besetzende Positionen in Deutschland betrifft. Subtiler agiert er meist in eigener Sache, schildert seine Leistungen und die Schwierigkeit seiner Situation – offenbar in der Selbstgewissheit, dass sich seine besondere Eignung für akademische Aufgaben von selbst erkläre. Aber nicht immer ist das der Fall. In einer Korrespondenz mit Ernst Boerschmann im Juni 1948 zeigt Bünger sich angefasst. Es geht um die Organisation einer „China-Tagung“. In diesem Kontext wurde die „sinologische Qualifikation” Büngers durch den Kollegen Haenisch angezweifelt. Bünger bat daher sehr eindringlich darum, „[w]enn für die Tagung in Hamburg eine ähnliche Liste von Vortragenden oder Teilnehmern aufgestellt wird, wie sie bei der Versendung der Aufforderungen zu Vorträgen erfolgte, so möchte ich nicht unter Juristen, sondern unter Sinologen aufgeführt werden.“ [9]

Unterstützung durch Forschungsaufträge

Auch wenn Bünger danach strebte, in der Sinologie Fuß zu fassen und sich 1951 in Tübingen in diesem Fach habilitierte, blieb das Recht sein Hauptgegenstand. Entsprechend bemühte er sich um eine Anbindung auch an die Rechtswissenschaft. Hiervon zeugen Reste der Personalakte von Bünger, die noch heute im MPIL verfügbar sind. Im Jahr 1950 unterstützte das Institut unter der Leitung von Carl Bilfinger Bünger in dem Bemühen um ein Forschungsstipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Das Stipendium sollte Büngers Arbeit zum „Strukturwandel der asiatischen Staaten nach ihrer Berührung mit dem Abendland“ unterstützen (Brief vom 7. November 1950).[10] Die Notgemeinschaft entschied nach längerer Prüfung, ihm das Stipendium zu gewähren. Da Bünger dafür aber auf seine Tübinger Vergütung als Lehrbeauftragter hätte verzichten müssen, nahm er das Angebot nicht an. Das Interesse des MPIL an Büngers Forschung war davon aber nicht berührt. Wie eine Aktennotiz zu einem Treffen vom 16. Februar 1950[11] vermerkt, erteilte Carl Bilfinger einen vergüteten Forschungsauftrag aus Institutsmitteln. Dies sollte laut der Notiz aus Sicht von Bilfinger zusätzlich zu den üblichen Autorenhonoraren erfolgen, „bis zur Klärung der endgültigen Finanzlage des Instituts“.

Der Hauptgegenstand der Korrespondenzen mit dem Institut aus dieser Zeit sind finanzielle Fragen. Zugleich war es Bünger bisweilen wichtig festzuhalten, dass gerade diese nicht für ihn das Hauptmotiv darstellten. Bünger ging es immer auch um Inhalte, wie „die Einsicht über die Notwendigkeit, diese völkerrechtlichen Vorgänge in Ostasien genauestens zu verfolgen. […] Wir sind in Deutschland (vielleicht allgemein in Kontinental-Europa) noch etwas in den alten Vorstellungen befangen, jene asiatischen Gebiete als Dependenzen Europas zu betrachten.”[12] Bünger entwickelte somit bereits 1950 eine eigene Perspektive auf die europäische Expansion und deren völkerrechtliche Grundlagen, die sich auch schon in seinen Vorträgen und Schriften aus dieser Zeit andeutet. Eine Perspektive, die danach erst in Forschungen der 1980er Jahre, etwa von Jörg Fisch, im deutschen akademischen Diskurs prominent wurde.

Was sowohl in den „sinologischen Briefwechseln” als auch in den Korrespondenzen mit Angehörigen des Instituts beeindruckt, ist, dass Bünger mit großer Hartnäckigkeit um seine akademische Existenz kämpfte, sich dabei aber mit großer Selbstgewissheit die eigene Stimme und Perspektive erhielt. Es blieb in dieser Zeit bei kleineren Forschungsaufträgen und Honoraren, eine Festanstellung, für die Bünger zur Verfügung gestanden hätte, kam nicht zustande. Mehr noch – und für Bünger vermutlich bitter – als er 1966 kurz vor seinem Ruhestand beim Institut nach Nachweisen für seine Tätigkeit an den Kaiser-Wilhelm-Instituten in den 1930er Jahren nachfragte, waren diese nur lückenhaft rekonstruierbar. So bleiben in den Akten nur Fragmente und kurze Ausschnitte aus einer Zeit, die Bünger akribisch forschend und produktiv schreibend verbrachte. Angesichts seiner Publikationen und seines Nachrufs wäre es weit verfehlt, Bünger ein Scheitern zu attestieren. Dennoch bleibt der Eindruck, dass er Zeit seines Lebens nicht die akademische Rolle und Position erhielt, nach der er strebte. Da waren zum einen die Umstände des Kriegs und des Nationalsozialismus, die seinen Lebensweg verkomplizierten. Da war aber vor allem auch das eigenwillige Profil des innovativen Forschers und Pioniers, der engen disziplinären Selbstverständnissen und Konventionen nicht entsprach.

Am Ende doch Diplomat

Nach der Habilitation 1951 folgten für Bünger Tätigkeiten als Professor für Sinologie in Freiburg und im Ruhestand in Bonn und Tübingen. Die reinen Lebensdaten zeugen also insgesamt von einer, in dem besonderen historischen Kontext, erfolgreichen akademischen Laufbahn. Dennoch mündete der berufliche Weg nicht in einer Stellung, die ihm die die enge Verbindung von fachwissenschaftlicher und regionalwissenschaftlicher Expertise in einer Position ermöglicht hätte, wie sie heute die Area Studies durchaus bieten.[13]  Auch das MPIL konnte ihm diese Perspektive nicht bieten, trotz der unzweifelhaften Wertschätzung an seiner Arbeit und dem Willen, ihn nicht „fallen zu lassen“, wie Hans Dölle es 1951 in einem Brief an Carl Bilfinger formulierte.[14] Karl Bünger zog es letztlich wieder in die Welt, er trat in den Auswärtigen Dienst ein und wurde Botschafter in Seoul (1960) und Generalkonsul in Hongkong (1964-1969).

Parallel hierzu und später im Ruhestand publizierte Bünger weiter. Interessant ist eine Beitrag Büngers über „Max Webers Ansichten über Recht und Justiz im kaiserlichen China“ aus dem Jahr 1972.[15] Wie viele China-Expert*innen, hatte auch Bünger das Gefühl, Webers Ansichten an bestimmten Stellen „richtigstellen“ zu müssen. Dennoch, und das erscheint viel wichtiger, lobte Bünger den „Mut und die Geisteskraft“ Webers, „seine Forschungen nicht auf die europäische Staatengesellschaft“ beschränkt zu haben. Bünger forschte zu Normativität und Recht in China zu einer Zeit, als die Hochzeit der Ungleichen Verträge[16] – und damit der Annahme, China verfüge gar nicht über ein Recht, das als solches anzuerkennen sei – noch nicht lange Vergangenheit war. Bünger war interessiert an Multinormativität und verstand den Rechtstransfer nicht als Imitation, sondern als Prozess des Austauschs und der Adaption.[17] Perspektiven also, die aktueller kaum sein könnten.

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[1] Foto: Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. Karl Bünger, Oriens Extremus, 20(1973), 126–128, 126.

[2] Brief von Karl Bünger an Ernst Boerschmann, datiert 28. November 1947, zitiert nach: Hartmut Walravens, „Haben Sie Ihre Bibliothek retten können?“ Ein sinologischer Briefwechsel aus der Nachkriegszeit, 1946–1950, Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, 179-180 (2006) 281–375, 289.

[3] Karl Bünger, Quellen zur Rechtsgeschichte der T’ang-Zeit, Peiping [Beijing]: Catholic University 1946.

[4] Karl Bünger, Quellen zur Rechtsgeschichte der T’ang-Zeit, Sankt Augustin: Steyler Verlag 1996.

[5] Karl Bünger, Quellen zur Rechtsgeschichte der T’ang-Zeit, Sankt Augustin: Steyler Verlag 1996, XXX.

[6] Dieter Eikemeier/Herbert Franke (Hrsg.): State and law in East Asia: Festschrift Karl Bünger, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1981.

[7] Brian E. McKnight, Review: Dieter Eikemeier and Herbert Franke (ed.): State and law in East Asia: Festschrift Karl Bünger. ix, 318 pp. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1981. DM 98, Bulletin of the School of Oriental and African Studies, 46 (1983), 386 – 387.

[8] Brief von Karl Bünger an Ernst Boerschmann (Fn. 2), 289.

[9] Brief von Karl Bünger an Ernst Boerschmann, datiert 20. Juni 1948, zitiert nach: Walravens (Fn. 2), 298-300, 299.

[10] Carl Bilfinger an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, 7. November 1950, Hausarchiv MPIL.

[11] Hausarchiv MPIL:

[12] Brief von Karl Bünger an Helmut Strebel, datiert 26. April 1950, Hausarchiv MPIL.

[13] Ich danke Alexandra Kemmerer für diesen Hinweis.

[14] Brief von Hans Dölle an Carl Bilfinger, datiert 6. Juni1951, Hausarchiv MPIL.

[15] Karl Bünger, Max Webers Ansichten über Recht und Justiz im kaiserlichen China, Oriens Extremus 19 (1972), 9-22.

[16] Siehe hierzu: Anne Peters, Treaties, Unequal, zuletzt überarbeitet: Februar 2018, in: Anne Peters/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law [MPEPIL], Oxford University Press 2008, www.mpepil.com.

[17] Siehe hierzu: Karl Bünger, Die Rezeption des Europäischen Rechts in China, in: Ernst Wolff (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsforschung, Berlin: de Gruyter/ Tübingen: Mohr 1950.