Zeitenwende. Carlo Schmid zwischen Völkerrecht und Außenpolitik

Der Schweizer Verfassungsrechtler Hans Nawiasky (r.) im Gespräch mit dem damaligen Staatspräsidenten von Süd-Württemberg-Hohenzollern Professor Carlo Schmid während des vorbereitenden Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee 1948 (Foto: © SZ Photo)

Der Polit-Star unter den Institutsmitarbeitern des 20. Jahrhunderts war fraglos Carlo Schmid: Minister in der Nachkriegszeit, Mitglied des Verfassungskonvents, Abgeordneter und einer der Begründer der deutsch-französischen Freundschaft, dazu Vordenker der europäischen Einigung und der Außenpolitik der Bundesrepublik. Sein Weg war keineswegs vorgezeichnet: Nach einer arbeitsrechtlichen Promotion war Carlo Schmid erst während seiner Zeit am damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) 1927 bis 1928 mit dem Völkerrecht in Berührung gekommen. Diese Episode ist Gegenstand eines Beitrags von Markus Payk auf diesem Blog.

Dieser Beitrag nimmt die denkwürdige Zeitenwende in den Blick, die das (überschaubare) wissenschaftliche Oeuvre von Carlo Schmid kennzeichnet. War er bis dahin ein zwar national denkender, aber hart dogmatisch arbeitender Völkerrechtler, bewog ihn die, von ihm unerwartete Entwicklung, nach der „Machtergreifung“, sich historischen Themen zuzuwenden, aus denen er geharnischte Kritiken der NS-Herrschaft entwickelte. Dies erlaubt einige Rückschlüsse auf das Verhältnis von Völkerrecht und Politik, insbesondere in Zeiten, in denen das Leitbild einer rechtlich geordneten Staatenwelt in die Ferne rückt.

1. Ein unpragmatischer Dogmatiker

Schmid arbeitete am Berliner Institut während spannungsreicher Zeiten. Die Institutionalisierung des Völkerrechts durch den Versailler Vertrag markierte eine deutliche Abkehr vom Bilateralismus des imperialen Vorkriegsvölkerrechts. Dogmatisches Denken hatte auf einmal eine bisher unbekannte Bedeutung. Das lag nicht zuletzt an der obligatorischen internationale Gerichtsbarkeit, die Schmid als Mitarbeiter von Viktor Bruns und Erich Kaufmann in den Verfahren des deutsch-polnischen Gemischten Schiedsgerichts hautnah erlebte. Ein autonomes Völkerrecht, das zwischenstaatliche Beziehungen unabhängig von nationalen Interessen und den damit verbundenen politischen Kämpfen in rationale Bahnen lenkt, schien hier auf einmal Wirklichkeit zu werden.[1] Die Apotheose dieser Entwicklung stammte zweifellos aus der Feder von Hans Kelsen. Zwar sah Kelsen durchaus die Strukturunterschiede zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht, ordnete jedoch das erstere dem letzteren unter und profilierte sich damit als Gegenpol zu Triepel.[2] An einem ähnlichen Strang wie Kelsen zog Verdross, der den Institutionen des Versailler Vertrags den Charakter einer überstaatlichen Verfassung zuschrieb.[3]

Zweifel an der Autonomie des Völkerrechts fanden sich einerseits bei Völkerrechtskritikern wie dem in der deutschen Literatur kaum rezipierten Kommunisten Jewgenij Paschukanis[4] oder dem amerikanischen Progressiven Sterling Edmunds. Wesentlich wirkmächtiger in der deutschen Diskussion jedoch waren Völkerrechtstheorien, die im Vorgriff auf den Realismus in den internationalen Beziehungen den Nationalstaat verabsolutierten. Im Konfliktfall blieb danach von einem autonomen Völkerrecht nicht mehr viel übrig, denn dann galt: „Nur wer kann, darf.“[5] Ein solcher Zugriff auf das Völkerrecht war anschlussfähig an ethnonationale Positionen, die durch Ethnizität die Leere zu füllen versuchten, die die zusammengebrochenen oder schwindsüchtigen Imperien monarchischer Prägung hinterließen. In ihnen haben universelle Normen keinen Platz; es dominiert der Antagonismus zwischen Freund und Feind.[6]

Am Institut herrschte bezüglich dieses Streits eine gewisse Ambivalenz. Einerseits verbot die Rolle des Instituts eine radikale Völkerrechtsskepsis. Andererseits bestärkte die Arbeit an den Reparationspflichten, das tägliche Brot eines Teils des Instituts, die Skepsis gegenüber dem Versailler Vertrag. Man versuchte sich daher an der Theoretisierung eines zu gewissem Grad autonomen Völkerrechts. Aus der Sicht von Viktor Bruns erhoffte man sich von der Eigenlogik des Völkerrechts eine gewisse Gleichberechtigung innerhalb der Staatengemeinschaft, die in der politischen Realität nicht existierte.[7] Hermann Heller sah das Völkerrecht als durch den Selbsterhaltungsanspruch der Staaten begrenzt an.[8]

Carlo Schmid versuchte sich in seinen Arbeiten aus der Zeit am Institut sowie in der darauf zurückgreifenden Habilitation von 1932 an einem merkwürdigen Hybrid zwischen diesen Positionen. Das Völkerrecht sollte nach ihm einerseits möglichst autonom operieren, frei von politischer Beeinflussung. So war es konsequent, dass er, den romanischen Sprachen besonders zugeneigt, gemeinsam mit Cornelia Bruns das Lehrbuch von Anzilotti übersetze. Es zeichnete sich im Vergleich zu anderen Werken aus der Zeit durch einen hohen Grad an dogmatischer Systembildung aus und gewährte insbesondere der Analyse internationaler Organisationen breiten Raum.[9] Die zwei Aufsätze in der ZaöRV zu Detailfragen des Reparationsrechts strotzen geradezu vor Technizität.[10] In diesem Sinne erarbeitete Schmid auch in seiner Habilitation ein System des Völkerrechts aus der Spruchpraxis des Ständigen Internationalen Gerichtshofs.[11] Das war untypisch für die oft praxisferne, theoriegesättigte völkerrechtliche Literatur der damaligen Zeit. Schmids Schrift entsprach insofern ganz dem Programm von Anzilotti.

Im Vergleich dazu dachte Viktor Bruns das Völkerrecht stets viel politischer und schreckte nicht davor zurück, völkerrechtliche Argumentationen am nationalen Interesse auszurichten. Schmid dagegen verfocht stur dogmatische Positionen, auch wenn er um ihren politischen Zündstoff wusste. Das führte, als er schon wieder in Tübingen war, zum Konflikt mit Bruns, als Schmid – unter Pseudonym – die Sanktionsklauseln des Haager Abkommens von 1930 zur Umsetzung des Young-Plans kritisierte.[12] Die Klausel gab den Gläubigerstaaten ein Sanktionsrecht, sofern Deutschland den nunmehrigen Rückzahlungsplan hintertreiben („détruire“) würde. Nach Schmid fiel darunter bereits das Ansinnen einer Revision des Young-Plans, so dass der Reichsregierung politisch die Hände gebunden würden. Eine der Reichsregierung günstigere Auslegung schien Schmid rechtlich inopportun, auch wenn er damit das Institut – und in der Verlängerung die Reichsregierung – in Verlegenheit brachte.[13]

Andererseits war Schmid nicht bereit, wie Kelsen den Sprung zum Internationalisten zu wagen und beurteilte den Versailler Vertrag durchgängig aus einer nationalen Perspektive, die auf seine Revision abzielte.[14] Im Ergebnis führte das zu einer fast schon destruktiven Haltung, die dem Völkerrecht kompromisslos zu Autonomie verhelfen wollte, dabei jedoch ständig mit dem nationalen Interesse in Konflikt geriet. Der Jurist und der Politiker in Schmid schienen in Konflikt miteinander zu stehen – Zeichen einer gewissen Orientierungslosigkeit.

2. Unsanftes Erwachen und Zeitenwende

Den Nationalsozialismus vor Augen: Aufzug der Spanischen Legion Condor vor dem Alten Museum am 6. Juni 1939 in Berlin. Fotografiert von einem unbekannten Institutsmitarbeiter von den oberen Etagen des Schlosses [15]

Das änderte sich recht abrupt mit der „Machtergreifung“ der NSDAP im Januar 1933. In seiner Autobiographie gesteht Schmid, dass er die Diktatur nicht habe kommen sehen. Wie viele andere habe auch er auf die Fähigkeit Hugenbergs und von Papens, der gerissenen Protagonisten der „Harzburger Front“, vertraut, Hitler unter Kontrolle zu bekommen.[16] Schon bald nach dem Januar 1933 sei ihm jedoch klar geworden, welcher neue Wind nun im Land wehte, zumal die Auswirkungen an der Universität Tübingen und am Landgericht unübersehbar waren.[17]

Diese Erkenntnis führte bei Carlo Schmid zu einer regelrechten Zeitenwende in Forschung und Lehre. Am deutlichsten ist das an den Veränderungen von Schmids Vorlesungsportfolio abzulesen. Bis einschließlich des Sommersemesters 1933 las Schmid in Tübingen Vorlesungen im Völkerrecht, die eng an sein bisheriges Forschungsprogramm angelehnt waren.[18] Neben dem allgemeinen Völkerrecht behandelte er vor allem den Völkerbund, die internationale Rechtspflege und sein Spezialgebiet, die Reparationen – kurzum, das Einmaleins des Versailler Vertrags. Politische Naivität kann man ihm nicht nachsagen, jedoch trennte er auch in seinen Vorlesungen Recht strikt von der Politik.

Ab dem Wintersemester 1933/1934 lässt sich eine denkwürdige thematische Verschiebung feststellen. Sie beginnt mit einer Veranstaltung zum Gestaltwandel der Reichsidee für Hörer aller Fakultäten. Dem folgt im Sommer 1934 ein Seminar zu Formen und Mitteln der Außenpolitik, ferner ein Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung zum „Mythos vom Dritten Reich im Mittelalter“. Diese Vorlesungen markieren den Beginn einer Auseinandersetzung mit geopolitischen Fragen in historischer Perspektive. Zugleich endet um diese Zeit das völkerrechtsdogmatische Oeuvre Schmids. Es lohnt sich, diese Wendung anhand zweier Texte zu studieren, die jeweils die gereiften, ausgearbeiteten Fassungen der Vorlesungsmanuskripte darstellen:[19] Einerseits ein Text von 1937 zur Reichsidee bei Dante und Dubois;[20] andererseits ein Text von 1956 zu Recht, Politik und Moral auf der Grundlage von Machiavelli.[21]

3. Tastende Versuche: Dante und die Reichsidee

Carlo Schmid als Privatdozent in Tübingen, ca. 1938[22]

Carlo Schmid wendete sich der Reichsidee zur selben Zeit zu wie Carl Schmitt. Letzterer beschrieb das Reich in seiner Großraumtheorie von 1939 als Interessenssphäre, die den Begriff der Souveränität relativierte.[23] In der erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Nomos-Schrift verbrämt er diese machtpolitische Instrumentalisierung des Reichs durch Rückgriff auf die mittelalterliche Vorstellung des Reichs als eines Katechon, das Europa vor dem Feind in Gestalt der muslimischen Welt beschützt habe, bevor Europa mit der Kolonisierung Amerikas selbst expansiv geworden sei.[24]

Völlig anders fällt Schmids Beschäftigung mit dem Reichsbegriff aus. Schmid kontrastiert das Reich als Idee bei Dante mit dem Reich als Ideologie bei Dantes Zeitgenossen Pierre Dubois. Dante verstehe das Reich als Raum der Vielfalt und des Gleichgewichts. Es strebe insbesondere nicht nach weltlicher Expansion, sondern nach Transzendenz in Gestalt des „Dritten Reichs“ – des Reichs des Heiligen Geists. Aufgabe des Kaisers sei es, seine Untertanen auf dieses jenseitige Reich vorzubereiten, nicht seine eigene Verherrlichung. Um die Kritik am Nationalsozialismus noch deutlicher zu machen, erklärte Schmid dabei Dante kurzerhand zum Deutschen: Das Reich als Idee sei zwar im Italien der Renaissance entstanden, aber auch aufgrund der Verbindung über das Heilige Römische Reich deutscher Nation für den in Deutschland vorherrschenden Reichsbegriff maßgeblich.

Der Franzose Dubois dagegen verfolge einen zweckrationalen, ideologischen Reichsbegriff, der der zweckrationalen, expansiven Seite Europas entspreche (Schmitt bezeichnet dies als Landnahme). Selbst den Völkerbund ordnet Schmid diesem ideologischen Reichsbegriff zu, wenngleich er den angloamerikanischen Einfluss auf die Genfer Institution nicht leugnen kann. Selbstredend geht von diesem ideologischen Reichsbegriff eine erhöhte Kriegsgefahr aus. Schmid versuchte hier womöglich, die Nationalsozialisten bei der nationalen Ehre zu packen und ihr Treiben als „undeutsch“ zu markieren. Offenkundig konnte nach seiner Ansicht nur ein anderer, vermeintlich besserer, geschichtsphilosophisch konsistenterer Nationalismus die Gesellschaft vor den Nazis retten. In sozialistische Ansätze hatte er kein Vertrauen mehr, spätestens seit Hermann Hellers Verknüpfung von Sozialismus und Nation keinen Anklang in der SPD gefunden hatte.[25] Stattdessen suchte er sein Heil in einer im Grunde monarchischen, heilsgeschichtlich verstandenen Gesellschaftsordnung. Unschwer erkennt man darin die Esoterik des George-Kreises, mit dem Schmid über Studienfreunde in Berührung gekommen war[26] und auf den er in dem Text auch explizit Bezug nimmt. Jenseits der Abkehr vom dogmatischen Völkerrecht ist dieser Text jedoch eher als ein gescheitertes Experiment zu betrachten. Übersteigerter, irrationaler Nationalismus ließ sich nicht durch eine andere Variante des übersteigerten, historisch wenig stichhaltigen, jedoch nicht weniger irrationalen Nationalismus kurieren.

4. Konfrontation: Machiavelli, Recht und Moral

In eine andere Richtung führte die Auseinandersetzung von Schmid mit Machiavelli. Wie Schmid widmete sich auch Carl Schmitt zur selben Zeit diesem Denker, dem er zuschrieb, vor dem Hintergrund der kolonialen Expansion den Gedanken eines Gleichgewichts unter den europäischen Mächten formuliert zu haben.[27] Machiavelli wird dabei zum Theoretiker der Machtpolitik.

Carlo Schmids Machiavelli-Interpretation weicht davon deutlich ab. In seinen Erinnerungen gibt Schmid zwar zu Protokoll, auch er habe Machiavelli während einer Italien-Reise als Theoretiker des europäischen Gleichgewichts entdeckt.[28] Seine Machiavelli-Schrift stellt jedoch ein anderes Gleichgewicht in den Mittelpunkt: dasjenige zwischen Politik und Moral, beziehungsweise zwischen Macht und Recht. Der endgültige Text entstand in mehreren Phasen und entwickelte sich anhand unterschiedlicher Gelegenheiten weiter.[29] Der Grundgedanke blieb dabei jedoch konstant: Schmid liest Machiavellis Werk im Zusammenhang, fügt den Principe und die Discorsi in ein Gesamtbild. Das bringt ihn zu der Erkenntnis, dass Machiavelli eigentlich kein Machiavellist gewesen sei, kein kalter Theoretiker der Machtpolitik, für den der Zweck die Mittel heilige.[30] Vielmehr sei der Principe als Anleitung für Politiker in Krisensituationen zu lesen, während die Discorsi die grundlegende, moralisch fundierte Ausarbeitung eines idealen Staatswesens enthalte. Der Principe diene gewissermaßen nur dazu, um vom Zustand des „cattivo governo“ (der schlechten Regierung), wie es die Schmid sicherlich bekannte Allegorie des Ambrogio Lorenzetti in Siena verewigte, zum „buon governo“ (zur guten Regierung) zu gelangen. Schmid stützt seine Interpretation auf den realistischen, praxisorientierten Ansatz des Humanismus der italienischen Renaissance, der er einen geradezu konstruktivistischen Ansatz unterstellt. Volk und Staat seien nicht von sich aus gut, trügen auch keinen unveränderlichen, gar biologisch festgelegten Charakter, sondern müssten von ihren Regierenden auf den richtigen Pfad geführt werden. Die Regierenden seien insoweit immer auch Spiegel des Zustands des Volkes. Je schlimmer es um das Volk stehe, desto eher sei mit charismatischer Herrschaft zu rechnen. Um Volk und Staat in einen guten Zustand („buon governo“) zu führen, sei konsequentes und vor allem konsistentes Handeln erforderlich, auch in der Außenpolitik. Entscheidend dafür sei die Rahmung der Gesellschaft durch eine Verfassung als oberstes Gesetz, das auf einen Ausgleich zwischen Flexibilität und Stabilität abziele. Souveränität bestehe demnach in einer gesetzesgemäßen Regierung – nicht, möchte man hinzufügen, in der Entscheidung über den Ausnahmezustand.

Der Gegenentwurf sowohl zu Schmitts Politischer Theologie, als auch zum Ethnonationalismus und zum Führerprinzip der NS-Diktatur ist offensichtlich. Ob Schmid dabei immer werktreu bleibt, ist eine andere Frage. Die rechtsstaatliche, geradezu verfassungstheoretische Lektüre Machiavellis findet im Text nur eine geringe Stütze. Für das postulierte Gleichgewicht zwischen zweckrationalem und wertrationalem Denken bei Machiavelli spricht jedoch einiges, wenngleich sich die Trennlinie durch beide Werke hindurch zieht. So formuliert der Principe nicht nur Krisenratschläge, sondern auch allgemeine Verhaltensanforderungen an Fürsten für gute Zeiten, wie zum Beispiel zur Frage, ob Fürsten ihr Wort halten müssen. Solche Fragen beantwortet Machiavelli zwar grundsätzlich nach zweckrationalen Gesichtspunkten; die moralischen Untertöne schwingen jedoch hörbar mit. In jedem Fall aber besteht eine klare Trennung zwischen Politik und Moral, Macht und Recht – eine Trennung, die Schmid nicht zu Unrecht als charakteristisch für die abendländische Moderne identifiziert. Daran knüpft Schmid an, um die moralische Verklärung des nationalen Eigeninteresses zurückzuweisen. Mit Machiavelli versucht er Staat und Volk vor der Heroisierung zu retten. Dieser Ansatz zieht sich auch durch Schmids weitere außenpolitische Schriften.[31] Das Ziel der Außenpolitik sei nicht, den Feind zu besiegen, damit er einen nicht besiegt. Das wohlverstandene Eigeninteresse jeder Nation sei vielmehr die Selbsterhaltung, die, wenn nötig, durch Krieg zu erstreiten ist. Aber besser als Krieg zu führen sei es allemal, Krieg zu verhindern.

5. Schlussfolgerungen

Die Entwicklung von Carlo Schmid vom sturen, national denkenden Völkerrechtsdogmatiker zum Weltpolitiker gibt Anlass zu einigen Reflexionen über Zeitenwenden und das Völkerrecht. Zunächst einmal haben Zeitenwenden immer ein methodisches Spiegelbild. Der systembildende Ansatz von Bruns war ebenso ein Kind der Weimarer Zeit wie der widersprüchliche Dogmatismus des jüngeren Schmid. Im Unterschied zu anderen Institutsmitarbeitern begriff Schmid jedoch sehr schnell, dass ein dogmatischer Ansatz in der düsteren Zeitenwende ab 1933 nicht mehr zielführend war, ja gar das Regime, das Schmid rundheraus ablehnte, daraus seinen Vorteil ziehen könnte. Denn dogmatische Begriffe wie das Interventionsverbot blieben oft ambivalent und ließen sich zu verschiedenen Zwecken einsetzen. In Zeiten des grassierenden Autoritarismus kann der Wissenschaft vom Völkerrecht jedoch eine andere Aufgabe zukommen. Ein abgeklärter, postheroischer Rückgriff auf Theorie und Geschichte kann zur beißenden Kritik der Wirklichkeit autoritärer Regime werden. Schmid schaffte es, von den Nazis unbehelligt zu bleiben. Manchen Studierenden seiner gut besuchten Vorlesungen mag er selbst im tiefbraunen Tübingen Orientierung vermittelt haben. Für die Nachkriegszeit dürfte dies nicht ohne Bedeutung geblieben sein.

[1] Jens Steffek, Max Weber, Modernity and the Project of International Organization, Cambridge Review of International Affairs 29 (2016), 1502–1519.

[2] Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts: Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen: JCB Mohr (P. Siebeck) 1920, 204 ff.

[3] Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, Wien: Springer 1926; Im Ergebnis vergleichbar, jedoch auf Grundlage einer anderen Epistemologie: Georges Scelle, Précis de droit des gens, Bd. 2: Droit constitutionnel international, Paris: Recueil Sirey 1934.

[4] Seine „Umrisse des Völkerrechts“ erschienen zwar erst 1935 auf Russisch, von Beginn an auf Deutsch vorliegend jedoch: Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus: Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Wien: Verlag für Literatur und Politik 1929.

[5] Erich Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen: Mohr Siebeck 1911.

[6] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), 1-33.

[7] Viktor Bruns, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 1 (1929), 1–56.

[8] Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, Berlin: de Gruyter 1927.

[9] Dionisio Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I: Einführung – Allgemeine Lehren, Berlin: de Gruyter 1929, 256 ff.

[10] Karl Schmid/Ernst Schmitz, Der Paragraph 4 der Anlage zu Sektion IV des Teils X des Versailler Vertrags, ZaöRV 1 (1929), 251–320; Ernst Schmitz/Karl Schmid, Zur Dogmatik der Sektion V des Teiles X des Versailler Vertrags, ZaöRV 2 (1931), 17–85.

[11] Karl Schmid, Die Rechtsprechung des Ständigen internationalen Gerichtshofs in Rechtsstätzen dargestellt, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1932.

[12] Karl Schmid, Die Sanktionsgefahr. Ein juristisches Gutachten über die Klauseln des Haager Abkommens, Der Deutsche: Die Tageszeitung der Deutschen Arbeitsfront, Nr. 42 v. 25.2.1930.

[13] Dazu: Petra Weber, Carlo Schmid, 1896–1979: Eine Biographie, München: C. H. Beck 1996, 71 ff.

[14] Weber (Fn. 13), 74 ff.

[15] Foto: AMPG.

[16] Carlo Schmid, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3: Erinnerungen, Bern: Scherz 1973, 152; vgl. dazu auch: Jens Bisky, Die Entscheidung: Deutschland 1929 bis 1934, Berlin: Rowohlt 2024, 472.

[17] Schmid, Gesammelte Werke, Erinnerungen (Fn. 16), 155 ff.

[18] Vgl: Universität Tübingen, Verzeichnis der Vorlesungen, welche an der Königlich-Württembergischen Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen gehalten werden, 1846–1950.

[19] Die Vorlesungsmanuskripte sind im Archiv der sozialen Demokratie (AdSD) erhalten (Dep. Goebel).

[20] Karl Schmid, Idee und Ideologie des Abendlandes an der Wende von Mittelalter und Neuzeit. Dante und Dubois, Berlin: Verlag Die Runde 1937, hier zitiert nach: Carlo Schmid (Hrsg.), Politik muß menschlich sein, Bern: Scherz 1980, 229–251.

[21] Carlo Schmid, Machiavelli oder Die Einheit von Esprit und Staatsführung, in: Schmid, Politik muß menschlich sein (Fn. 20), 252–295. Der Text erschien erstmals als: Karl Schmid, Machiavelli, in: Rudolf Stadelmann (Hrsg.), Große Geschichtsdenker. Ein Zyklus Tübinger Vorlesungen, Tübingen: Wunderlich 1949.

[22] Foto: AdSD 6/FOTA003354.

[23] Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, Berlin: Deutscher Rechtsverlag 1939.

[24] Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln: Greven 1950, 25 ff.

[25] Hermann Heller, Sozialismus und Nation, Berlin: Arbeiterjugend-Verlag 1925; Weber (Fn. 13), 75.

[26] Schmid, Gesammelte Werke, Erinnerungen (Fn. 16), 170.

[27] Schmitt, Nomos (Fn. 24), 112, 117.

[28] Schmid, Gesammelte Werke, Erinnerungen (Fn. 16), 168, 172.

[29] Vgl. Fn. 21.

[30] Schmid, Machiavelli oder Die Einheit (Fn. 21), 266.

[31] Carlo Schmid, Was ist Außenpolitik?, in: Schmid, Politik muß menschlich sein (Fn. 20), 336–347.

Kategorie Feature

Matthias Goldmann ist Professor für internationales Recht an der EBS-Universität in Wiesbaden und Referent am MPIL.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert