Tradition und Kontinuitäten der Institutsforschung am Beispiel des Klimaschutzes

Ein Ort mit langer Forschungstradition. Das Institut, um 2014 (Foto: MPIL)

Der vorliegende Beitrag nimmt seinen Ausgang bei der grundlegenden Frage, ob und in welchem Sinne das Völkerrecht als Rechtsordnung zu begreifen ist und in welchem Maß es geeignet ist, staatliches Handeln zu steuern, politische Macht zu legitimieren und zu begrenzen. Diese Problemstellung hat die Forschung am Institut über Jahrzehnte hinweg maßgeblich geprägt und bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen.

Im ersten Teil rekonstruiere ich zentrale Linien dieser Forschungstradition und zeige, wie das Verständnis des Völkerrechts als ordnungs- und gemeinschaftsbildende Struktur die wissenschaftliche Arbeit am Institut bis in die Gegenwart hinein prägt. Der zweite Teil widmet sich dem Klimaschutz, einem Politikfeld, in dem die Ambivalenzen, aber auch die Potenziale völkerrechtlicher Ordnung in besonderer Weise sichtbar werden. Gerade weil der Klimawandel ein genuin globales Problem darstellt, kommt dem Völkerrecht hier eine herausgehobene Rolle zu. Es zeigt sich, dass völkerrechtliche Normen und Institutionen trotz politischer Blockaden und nur allmählichen Fortschritts zunehmend staatliches wie auch privates Handeln strukturieren.

Der dritte Teil schließlich richtet den Blick auf die Zukunft der Völkerrechtswissenschaft im Angesicht der klimabedingten Transformation. Er fragt danach, welchen Beitrag die Wissenschaft leisten kann, um das normative und transformative Potenzial des Völkerrechts für den Klimaschutz zu entfalten und zugleich dessen ordnungsstiftende Kraft zu sichern.

I. Das Denken von der Völkerrechtsordnung als Forschungstradition

Völkerrecht als Rechtsordnung. Der Gründungsaufsatz der ZaöRV 1929[1]

Der Eröffnungsartikel der ersten ZaöRV aus dem Jahr 1929 stammt aus der Feder des ersten Institutsdirektors Viktor Bruns. Der Beitrag beginnt mit dem Satz: „Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung für die Gemeinschaft der Staaten, ein System von Rechtsgrundsätzen, Rechtsinstituten und Rechtssätzen, die untereinander in einem Ordnungszusammenhang stehen.“ Mit diesem Beginn markiert Bruns die Stoßrichtung des Beitrags, in dem er die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und insbesondere dessen Lotus-Urteil kritisierte. In der Lotus-Entscheidung hatte der Gerichtshof den Staaten eine originäre Freiheitssphäre zuerkannt, die sich in ihrer prinzipiellen Unabhängigkeit voneinander manifestierte; nur eine ausdrückliche Verbotsnorm könne diese ursprüngliche Freiheit, das heißt die Souveränität der Staaten, begrenzen.

Bruns sah das Ziel, Frieden herzustellen und zu bewahren, durch dieses Grundsatz–Ausnahme-Verhältnis von staatlicher Freiheit und völkerrechtlicher Ordnung gefährdet. Seine Theorie des Völkerrechts als Rechtsordnung, konkret der darin enthaltene Ordnungsgedanke, diente ihm dazu, das von den Haager Richtern skizzierte Verhältnis umzukehren. Erst eine Ordnung durch Recht, die den Staaten Freiheitsräume konstitutiv zuweist und die zwischenstaatlichen Beziehungen über Erlaubnis- und Verbotsnormen regelt, garantiere allen Staaten gleichermaßen Freiheit und Frieden. Ohne eine solche Ordnung entstünden rechtsfreie Räume, in denen das Recht des Stärkeren herrscht. Die innere Struktur dieser Ordnungsnormen war für Bruns essenziell, denn nur eine solche Ordnung sei überhaupt in der Lage, gleiche Freiheit für alle Staaten zu gewährleisten. Er bezeichnete die Völkerrechtsordnung daher als Verteilungs- und Friedensordnung.

Ohne dies ausdrücklich zu benennen, knüpfte Bruns mit seinen Überlegungen an die klassische Theorie des Gesellschaftsvertrags an und übertrug diese auf die internationale Ebene. In der Rechtsgemeinschaft der Staaten erkannte er die politische Autorität, die diese Ordnung durch Unterordnung des einzelnen Staates unter das Ganze herstellt und wahrt. Grundlage dieser Ordnung war nicht die Souveränität der Staaten – also ihre Freiheit, allein nach eigenem Interesse zu handeln –, sondern die Verwirklichung der Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Solidarität. Bruns’ Freiheitsverständnis war damit nicht vom unabhängigen Staat, sondern von der Gemeinschaft, das heißt, von den Abhängigkeitsbeziehungen der Staaten untereinander, abgeleitet.

Diese Überlegungen griff Hermann Mosler in einem anlässlich des 50-jährigen Institutsjubiläums in der ZaöRV erschienenen Beitrag aus dem Jahr 1976 auf. Wenngleich er Bruns’ methodische Herangehensweise kritisch würdigte, teilte er dessen Grundannahme, dass das Völkerrecht eine eigenständige Rechtsordnung konstituiert, die staatliche Handlungsfreiheit im zwischenstaatlichen Verhältnis begrenzt. Er konstatierte einen „Primat“ der Völkerrechtsordnung, wonach die Grenzen staatlicher Kompetenz durch das Völkerrecht bestimmt werden. Zugleich erkannte er an, dass es für die Bewahrung einer internationalen Ordnung erforderlich sei, ein Gleichgewicht der sogenannten Großmächte herzustellen, um die Macht derer auszugleichen, die in der Lage wären, die Gemeinschaft im Ganzen zu stören. Das Gleichheitsprinzip könne seiner Ansicht nach einem solchen Ausgleich dienen, da dadurch kleinere Staaten in Summe Recht schaffen können, das die Macht der größeren Staaten begrenzt.

Den bereits von Bruns formulierten Gedanken, das Völkerrecht müsse vom Individuum und seinem Zusammenschluss im staatlichen Verbund her gedacht werden, griff Mosler auf und entwickelte ihn weiter. Zwar begriff er das Individuum nicht als strukturgebend für das Völkerrecht, doch erkannte er ihm durch die Menschenrechte eine völkerrechtlich erhebliche Position gegenüber dem Staat zu. Die Menschenrechte, insbesondere soweit sie eng mit der Würde des Menschen verknüpft sind, zählte er zum ordre public der Völkerrechtsordnung.

Diese Abhandlungen verdeutlichen die Überzeugung, dass das Völkerrecht Ordnung durch Recht herstellt und dadurch politische Macht legitimiert und limitiert und nicht lediglich formalisiert. Bruns und Mosler gingen von einer internationalen Rechtsgemeinschaft aus, deren Gemeinschaftswille über das Aggregat staatlicher Einzelinteressen hinausreicht und die einen konstitutiven Ordnungsrahmen setzt. Die staatliche Souveränität leitet sich aus dieser Ordnung ab. Als Gemeinschaftsordnung stärkt das Völkerrecht die Verwirklichung globaler Gemeinschaftszwecke und entfaltet zudem eine emanzipatorische Kraft für die „Schwachen“, indem es das Individuum gegenüber dem Staat und kleinere, wirtschaftlich oder militärisch schwächere Staaten gegenüber wirtschaftlich und militärisch überlegenen Staaten stärkt.

Am Institut ist die Völkerrechtsordnung im Sinne dieser Tradition erforscht worden. Es ging um ihre theoretischen Grundlagen, um Rechtssubjekte und -verpflichtete, um Prinzipien, Institutionen und Instrumente, wobei auch Funktion und Legitimation des Völkerrechts reflektiert wurden. In unterschiedlichen Spielarten wurde aufgezeigt, dass das Völkerrecht einen Handlungsrahmen schafft, der Macht und Interessen der Staaten, der internationalen Organisationen und weiterer Akteure, die internationale öffentliche Autorität ausüben, legitimiert und begrenzt. Die Stellung des Individuums im Völkerrecht gehörte zum Forschungsinteresse insbesondere von Rudolf Bernhardt, Jochen Frowein und Anne Peters. Die völkerrechtlich garantierten Menschenrechte sind ein konstitutives Element der beobachteten Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung.

II. Gegenwärtige Herausforderungen

Frühe Beispiele umweltvölkerrechtlicher Forschung am Institut

Diese Sichtweise auf die Völkerrechtsordnung wird gegenwärtig jedoch mit besonderer Schärfe herausgefordert. Die Staatengemeinschaft erweist sich vielfach als unfähig, das Völkerrecht effektiv durchzusetzen. Zahlreiche Staaten lehnen die bestehende Ordnung ab, weil sie diese nicht als gerecht empfinden. Rüdiger Wolfrum hatte das Prinzip internationaler Solidarität daher richtungsweisend zum Forschungsgegenstand des Instituts gemacht. Anne Peters reflektiert die Überlegungen von Bruns und Mosler vor dem Hintergrund aktueller Kritik am Völkerrecht und betont, dass eine Rechtsordnung nur dann Ordnung durch Recht schaffen kann, wenn sie nicht einseitig durch wenige mächtige Staaten geprägt ist. Weder bei der Rechtserzeugung, Rechtsanwendung noch Rechtsauslegung dürften double standards eine Bevorteilung großer Staaten ermöglichen. Veränderungen müssten aus dem Inneren des Rechts heraus angestoßen werden, um den Anforderungen globaler sozialer Gerechtigkeit gerecht zu werden. Damit erkennt sie an, dass eine Ordnung, mag sie auch noch so systemkohärent sein, langfristig an mangelnder Akzeptanz scheitern kann. Dies gilt im Umweltvölkerrecht angesichts seiner postkolonialen Entwicklungsgeschichte in besonderer Weise, wie bereits Ulrich Beyerlin herausgestellt hat.

III. Klimaschutz als Prüfstein für Bestand und Steuerungsfähigkeit der Völkerrechtsordnung

Vor diesem theoretischen Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die Völkerrechtsordnung im Bereich des Klimaschutzes konkret ausformt und welche Steuerungsleistungen ihr dort zukommen. Die Staaten haben zu diesem Zweck ein eigenständiges völkerrechtliches Regelwerk geschaffen. Insofern stellt sich die weitergehende Frage, ob dieses Regime politischen Interessen normative Standards zugunsten kollektiver und individueller Schutzgüter entgegensetzt. Mit vorsichtigem Optimismus lässt sich feststellen, dass entsprechende Tendenzen erkennbar sind – wenngleich sich zugleich Rechtsentwicklungen beobachten lassen, die diese Entwicklung relativieren oder in eine andere Richtung weisen.

1. Der vertragliche Kontext

Mit Blick auf das 2- bzw. das 1,5-Grad-Ziel verpflichtet das Pariser Abkommen die Vertragsparteien, eigene Klimaschutzbeiträge festzulegen und sukzessive zu steigern. Es schafft institutionelle und prozedurale Rahmenbedingungen für einen Austausch der Staaten im Rahmen der jährlichen Vertragsstaatenkonferenzen. Auf diesen haben die Vertragsparteien etwa das Temperaturziel von 1,5 Grad Celsius zur maßgeblichen Zielvorstellung erhoben was der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten aus dem Jahr 2025 nunmehr bestätigt hat.[2] Gleichwohl bleiben die dort getroffenen Vereinbarungen häufig hinter den Erwartungen zurück, wie zuletzt die COP 30 in Belém gezeigt hat. Vor allem aber sieht das Pariser Abkommen keine verbindlichen CO₂-Reduktionspflichten vor. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Vertragsparteien ihre energiepolitische Souveränität nicht maßgeblich einschränken wollten. Die Schwächen dieses Regelungsrahmens zeigen sich in der Diskrepanz zwischen den anvisierten Klimaschutzbeiträgen und den Erfordernissen zur Erreichung der Klimaziele. Diese Diskrepanz verweist auf die funktionale Asymmetrie des Klimaregimes, in dem ein globales Problem durch national ausgestaltete Verpflichtungssysteme adressiert werden soll. Bereits 2024 soll die weltweite Durchschnittstemperatur die 1,5-Grad-Schwelle erreicht haben.

Legt man zugrunde, dass Staaten ihre internationalen Beziehungen vielfach nach rational-ökonomischen Parametern gestalten, ergibt sich aus dem Fehlen verbindlicher Vorgaben ein klassisches Problem kollektiven Handelns: Staaten mit ambitionierten Klimaschutzbeiträgen laufen Gefahr, ihre Maßnahmen ökonomisch zu „verpuffen“, wenn andere Staaten nicht mitziehen. Diese profitieren kurzfristig von den Anstrengungen der Vorreiter und zugleich von günstiger Energie – wodurch der Beitrag der Vorreiter strukturell an Wirksamkeit verliert.

2. Die Aktivierung des Völkerrechts durch Klimaklagen

Ein anderes Bild zeichnen nationale und internationale Klimaklagen, -beschwerden und Gutachten, die an das Pariser Abkommen anknüpfen und dessen Klimaziele dezentral durchsetzen. Diese Verfahren sind zu einem Rechtstrend geworden. Erste juristische Erfolge verzeichneten menschenrechtlich fundierte Klagen und Beschwerden. Auf innerstaatlicher, regionaler Ebene und vor den Menschenrechtsausschüssen der VN (Saachi and Torres Strait Islanders) haben überwiegend junge Menschen Staaten auf intensivere Klimaschutzbemühungen verklagt – vielfach mit Erfolg. Zu nennen sind hier etwa der Fall Urgenda gegen die Niederlande,[3] der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts,[4] weitere Fälle[5] etwa in Frankreich,[6] Irland,[7] oder Südkorea[8] sowie der Klimaseniorinnen-Fall[9] vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und das Klimagutachten des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR).[10] In diesen Verfahren haben Gerichte auf Grundlage der Menschenrechte ein Element intertemporaler Fairness anerkannt: Die Freiheit der heutigen Generation findet dort ihre Grenze, wo sie die Freiheitschancen künftiger Generationen unterminiert. In einigen Staaten, wie etwa der Schweiz, hat diese Rechtsprechung zu demokratischem Widerstand geführt. Aus Gründen der Gewaltenteilung sind Klagen in Deutschland auf die Anordnung bestimmter politischer Maßnahmen – wie etwa eines allgemeinen Tempolimits – erfolglos geblieben. Auch zahlreiche Klagen gegen Unternehmen, sogenannte Carbon Majors, wurden aus Gründen der Gewaltenteilung abgewiesen;[11]das zunächst wegweisende Urteil gegen Shell wurde in der Berufung aufgehoben.[12] Gleichwohl haben die gegen Staaten gerichteten Entscheidungen Maßstäbe gesetzt, die Gesetzgeber zur Ergreifung konkreter Maßnahmen in verschiedenen Wirtschaftssektoren verpflichten. Für künftige Generationen bedeutet dies, dass ihre Belange von nun an in der Gesetzgebung Berücksichtigung finden.

Weitere Verfahren sind vor dem Internationalen Seegerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof angestrengt worden. Der Internationale Seegerichtshof stellte in seinem Klimagutachten fest, dass die Pflicht der Vertragsstaaten, Meeresverschmutzung zu vermeiden, auch die Pflicht umfasst, CO₂-Emissionen zu reduzieren.[13] Der IGH konnte sich auf die gutachterlichen Stellungnahmen und Gerichtsentscheidungen des Seegerichtshofs, des EGMR und IAGMR sowie der Menschenrechtsausschüsse der Vereinten Nationen stützen. Er nutzte die Chance, den Ordnungsgedanken des Klimavölkerrechts zu stärken. Das Gutachten bestätigt die Entwicklung des (Umwelt-)Völkerrechts hin zu einer öffentlichen Ordnung, die staatliches Handeln an Gemeinwohlzwecken orientiert und dadurch begrenzt. Besonders hervorzuheben ist die Ausweitung des Präventionsgebots auf das globale Problem des Klimawandels. Damit wird staatliches Handeln auch dort begrenzt, wo Tätigkeiten im eigenen Hoheitsgebiet negative Auswirkungen auf die globale Umwelt haben. Dabei knüpft der Gerichtshof an grundlegende Linien des Umweltvölkerrechts an – von Trail Smelter,[14] über Pulp Mills[15] bis hin zur modernen Ausgestaltung der völkerrechtlichen Sorgfaltspflicht und passt sie an die aktuellen Herausforderungen an. Im Lichte dieses Gebots ausgelegt interpretiert der IGH das Pariser Abkommen zudem dahingehend, dass die Vertragsstaaten sich Klimabeiträge vornehmen müssen, die geeignet sind, das 1,5-Grad-Ziel sicherzustellen.[16] Die Feststellung, dass ein Recht auf eine gesunde Umwelt den Menschenrechten als immanente Voraussetzung innewohnt,[17] verstärkt die Wirkungskraft des Völkerrechts im innerstaatlichen Hoheitsbereich.

Ergänzt wird dies durch deutliche Hinweise, dass das am Sorgfaltsmaßstab ausgerichtete Präventionsgebot eine wirksame Regulierung privaten Handelns verlangt und dass die andauernde Produktion und der Konsum sowie die staatliche Subventionierung oder Lizenzierung fossiler Unternehmen völkerrechtswidrig sein kann.[18] Diese Feststellung ist bemerkenswert, da sich der IGH in seinem Gutachten zugleich erkennbar zurückhält, politische Spielräume durch die Vorgabe konkreter rechtlicher Maßnahmen oder Instrumente zu reduzieren.

Das Bild einer auf diese Weise erstarkenden Völkerrechtsordnung wird allerdings immer wieder dadurch relativiert, dass Fragen globaler Verteilungsgerechtigkeit aus Sicht vieler Staaten nicht ausreichend adressiert werden. Das IGH-Gutachten war aus diesem Grund unter Führung Vanuatus von einer Gruppe Inselstaaten angestoßen worden.[19] Vanuatu ist bereits heute in seiner Existenz durch den steigenden Meeresspiegel bedroht. Besonders umstritten war im Gutachtenverfahren daher, ob Industriestaaten völkerrechtliche Restitutions-, Kompensations- oder Entschädigungspflichten für Verluste und Schäden tragen, die durch Emissionen – einschließlich historischer Emissionen – verursacht wurden. Die Inselstaaten verbanden mit dem Gutachten die Erwartung, dass der Gerichtshof nicht nur Ordnung, sondern auch materielle Gerechtigkeit durch Recht herstellt. Denn vor Gericht kann sich die formale Gleichheit der Staaten in der Rechtsfindung stärker materialisieren als in der völkerrechtlichen Verhandlungspraxis, in der materielle Ungleichheiten häufig die formale Gleichheit unterminieren. Die außergewöhnlich hohe Zahl von über 100 Staaten und internationalen Organisationen, die sich an dem Verfahren beteiligten, verdeutlicht die zentrale Bedeutung, die die Staatengemeinschaft dieser rechtlichen Klärung beigemessen hat.

Die Dimension der Verteilungsgerechtigkeit findet im Gutachten sowohl in intertemporaler als auch in intragenerationeller Hinsicht ausdrückliche Anerkennung, ohne die eine Dimension der anderen vorzuziehen. Der Gerichtshof betont die zwischenstaatlichen Kooperationspflichten, die interpretationsleitende Bedeutung des Grundsatzes gemeinsamer, aber differenzierter Verantwortung und erkennt die Möglichkeit an, Klimaschäden im Wege der gewohnheitsrechtlichen Regeln über die Staatenverantwortlichkeit geltend zu machen.[20] Auf diesem Wege hat der IGH das Völkerrecht als Instrument einer verantwortungsethisch fundierten Gerechtigkeit aktiviert. Ob streitige Verfahren tatsächlich zur Anerkennung von Schadensersatzansprüchen führen werden, ist allerdings offen und wird selbst innerhalb der Richterschaft bezweifelt.[21] Die durch das Gutachten geweckten Hoffnungen einiger Insel- und Entwicklungsstaaten bergen mithin das Risiko, normative Erwartungen an das Völkerrecht zu wecken, die sich in streitigen Verfahren womöglich nicht einlösen und damit auch nicht stabilisieren lassen. Umgekehrt könnte eine durch gerichtliche Entscheidungen bewirkte globale Umverteilung die Akzeptanzgrenzen vieler Staaten überschreiten.

Gleichwohl hat der IGH mit der Offenheit seines Ansatzes einen ausgewogenen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Erwartungen gefunden. Er hat Raum für politische Verhandlungen gelassen, wo keine Einigkeit besteht, zugleich aber einen klaren Handlungs- und Lösungsauftrag formuliert. Bei der Präzisierung materieller Kriterien, etwa im Hinblick auf Verantwortungsteilung und -differenzierung, hat er sich zurückgehalten. Das Gutachten stärkt jedoch mit der Anerkennung eines strengen Sorgfaltsmaßstabs,[22] eines eigenständigen völkergewohnheitsrechtlichen Kooperationsgebots zum Schutz der Umwelt[23] und der interpretativen Bedeutung von Beschlüssen der Vertragsstaatenkonferenz[24] die Räume zwischenstaatlicher Kommunikation, Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung. Zugleich werden künftige Verfahren den IGH dazu zwingen, zu klären, wann die Verletzung der staatlichen Sorgfaltspflicht zur Prävention des Klimawandels vorliegt – und damit auch materielle Kriterien, etwa zur Verantwortungsteilung zu präzisieren. Gerade in diesen Verfahren wird sich erweisen, inwieweit die Völkerrechtsordnung ihren normativen Anspruch einlösen kann.

3. Rechtsentwicklungen im internationalen Wirtschaftsrecht

Viele Gerichte haben sich bei ihren Entscheidungen auf die ins nationale Recht transformierten globalen Klimaziele sowie die Berichte des IPCC gestützt und auf dieser Grundlage Grenzen individueller Freiheitsausübung anerkannt. In dieser Rahmensetzung liegt das Potenzial, das Verhältnis von Mensch und Umwelt neu zu justieren. In der politischen Theorie ist herausgearbeitet worden, dass sich das Umweltrecht weitgehend in die bestehenden Strukturen wirtschaftspolitischen Liberalismus eingefügt hat – ein Umstand, der zur Gefährdung natürlicher Lebensgrundlagen beigetragen hat.[25] Die aktuellen Gerichtsentscheidungen könnten eine Umkehr dieses Denkens initiieren, indem der Umweltschutz künftig den Rahmen für wirtschaftliches Handeln definiert.

Im internationalen Handels- und Investitionsschutzrecht lassen sich erste Ansätze eines solchen Paradigmenwechsels erkennen. Insbesondere die Europäische Union hat in jüngerer Zeit Freihandels- und Investitionsschutzabkommen geschlossen, die den Klimaschutz ausdrücklich als Ziel und als Regulierungsgrund aufnehmen und in denen sich die Vertragsparteien wechselseitig zu Klimaschutz verpflichten. Dazu zählen Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, der EU und Neuseeland oder Kenia.[26] Der europäische Emissionshandel,[27] die Lieferkettengesetzgebung[28] und die neuen Berichterstattungsstandards[29] verpflichten Unternehmen zunehmend dazu, CO₂-Emissionen zu internalisieren und langfristige Klimastrategien zu entwickeln. Klimaschutz wird damit zur Zielvorgabe für das Marktgeschehen – und ermöglicht es, ethische Maßstäbe in ein globales Marktumfeld einzubetten, in dem der individuelle Konsument angesichts massiver Informationsasymmetrien kaum Einfluss nehmen kann.

Doch bleiben diese Entwicklungen bislang Ansätze, die nicht von allen Staaten geteilt werden. Innerhalb der EU sind sie angesichts wachsenden Drucks nach wirtschaftlicher und militärischer Resilienz umstritten. Die größten CO₂-Emittenten – die USA und die Volksrepublik China – haben sich der Integration von Klimaschutz in Handels- und Investitionsabkommen bisher nicht angeschlossen. Die europäische Lieferkettengesetzgebung ist auf Drängen mehrerer Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, erheblich abgeschwächt worden; der Anwendungsbereich wurde reduziert, Berichtspflichten gelockert und der Zeitpunkt der Umsetzung verschoben.[30]

4. Zwischenfazit

Lässt man diese Rechtsentwicklungen Revue passieren, so zeigt sich im Bereich des Klimaschutzes eine Völkerrechtsordnung, die Ansätze einer emanzipatorischen und bestärkenden Kraft für Individuen und kleinere Staaten erkennen lässt. Maßgeblich hierfür sind, wie erwähnt, die Institutionalisierung eines Austauschs der Vertragsparteien, die Setzung globaler Zielvorstellungen, die dadurch angestoßenen Klimaklagen, die Diffusion der Klimaziele in andere Bereiche des Völkerrechts und die vom Völkerrecht ausgehende Pflicht zur staatlichen Regulierung unternehmerischen Handelns. Künftige Generationen und langfristige Umweltbelange werden gegenüber staatlicher und wirtschaftlicher Macht gestärkt. Das staatliche Handeln wird nicht mehr ausschließlich durch rational-ökonomische Erwägungen gelenkt, sondern zunehmend durch ethische Maßstäbe, die gesellschaftlich artikuliert werden. Menschenrechte und im Lichte des Umweltvölkerrechts interpretierte verfassungsrechtliche Umweltziele steuern sowohl das Handeln der Staaten gegenüber Privaten als auch ihr Verhalten gegenüber anderen Staaten.

In ihrer wechselseitigen Bezugnahme bilden diese Gerichtsentscheidungen ein Klimarechtsnetz, das mittel- und langfristig zur Herausbildung einer trans- und internationalen Ordnung beitragen kann. Eine Verknüpfung innerstaatlicher und internationaler Rechtsprechung hat das Potenzial, den „Souveränitätspanzer“ der Staaten zu durchdringen oder zumindest durchlässiger zu machen. Dies könnte aus dem Staatsinneren heraus zu einer Selbstbegrenzung staatlicher Freiheit führen und damit zur Verwirklichung des Klimaschutzes als globalem Gemeinschaftsziel beitragen.

Die Geschichte des Umweltvölkerrechts zeigt, dass dieses stets von Entwicklungen beeinflusst wurde, die sich von der nationalen auf die internationale Ebene verlagerten. Ebenso könnte eine Neuausrichtung des Freiheitsverständnisses vom innerstaatlichen in den internationalen Kontext ausstrahlen und so bottom-up zur Entstehung einer an Gemeinschaftszielen orientierten Völkerrechtsordnung beitragen. Die Geschichte zeigt allerdings auch, dass das Umweltvölkerrecht von einem Spannungsverhältnis zwischen transformativer Ambition und politischer Machbarkeit geprägt ist.

IV. Perspektiven: Juristische Vorstellungskraft und die Rolle der Wissenschaft

„Der Wissenschaft kommt in Zeiten des Klimawandels eine herausgehobene Rolle zu“. Die Rotunde des Instituts, um 2014 [31]

Wenn ich im dritten und letzten Teil meines Beitrags in die Zukunft blicke, geht es mir vor allem um die Frage, wie die Völkerrechtsordnung ökonomischen Machtinteressen durch normative Maßstäbe zum Schutz globaler Gemeinschaftsinteressen entgegentritt und diese begrenzen kann. Es geht mithin um die Grundlagen des Verhältnisses von Mensch, Umwelt und Wirtschaft im Recht. Der Klimawandel zwingt uns geradezu, darüber nachzudenken, wie eine umweltrechtliche Einbettung wirtschaftlichen Handelns gelingen kann.

Dies erfordert, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken, rechtliche Narrative zu hinterfragen und die juristische Vorstellungskraft zu erweitern. Denn das Recht transportiert Vorstellungen vom „guten Leben“ und damit abstrakte Vorstellungen über seine gesellschaftliche Funktion. Diese beeinflussen unser Verständnis dessen, was ein mögliches und was ein überzeugendes juristisches Argument ist. Daher ist es von erheblicher Bedeutung, zu reflektieren, ob unser Freiheitsverständnis mit einem Verständnis von Verantwortung, Fürsorge und Freiheitsvoraussetzungen vereinbar ist, die in den Beziehungen zu anderen Menschen und den materiellen Umweltbedingungen begründet liegen. Dazu gehört auch, zu hinterfragen, welche Bilder Begriffe wie „Souveränität über natürliche Ressourcen“, „territoriale Hoheitsgewalt“ oder „Recht auf Umweltverschmutzung“ evozieren und ob diese Vorstellungen nicht durch ein stärker interdependenzorientiertes Denken ersetzt werden sollten.

Da das Klimavölkerrecht sein volles Potenzial erst in Verbindung mit regionalem und innerstaatlichem Recht entfaltet, sollte zudem wissenschaftlich reflektiert werden, wem das Völkerrecht auf nationaler Ebene nützt, wen es stärkt und wen es schwächt – und wie es bestehende Machtkonstellationen stabilisiert oder transformiert. Internationale Forschungskooperationen mit rechtsvergleichendem Schwerpunkt werden hierfür von zentraler Bedeutung sein. Über sie lassen sich verbindende Konzepte identifizieren, die wiederum auf die internationale Ebene zurückwirken. Der Radius der Rechtsvergleichung sollte hierzu unbedingt auf Staaten und zivilgesellschaftliche Rechtsmobilisierung im Globalen Süden ausgeweitet werden.

Der Wissenschaft kommt in Zeiten des Klimawandels eine herausgehobene Rolle zu. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern ebenso für die Rechtswissenschaften. Ich schätze es sehr, dass die Forschung am Institut stets auch ihr Augenmerk darauf gerichtet hat, in konstruktiver Weise Wege aufzuzeigen, wie die Völkerrechtsordnung auf valide Kritik reagieren kann. Gerade im Bereich des Klimaschutzes kann eine konstruktivistisch informierte Rechtswissenschaft produktiv zu jener globalen Transformation beitragen, die wir als Menschheit zu bewältigen haben.

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[1] Foto: Mirko Lux.

[2] IGH, Obligations of States in Respect of Climate Change, Advisory Opinion v. 23.7.2025, Case No. 187, Rn. 245.

[3] Hoge Raad [Verfassungsgerichtshof der Niederlande], Die Niederlande v. Urgenda, Urteil v. 20.12.2019.

[4] BVerfG, Beschluss v. 24.03.2021, Az. 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20 – Klimaschutz.

[5] Für einen aktuellen Überblick über die Fülle an Verfahren: Joanna Setzer/Catheine Higham, Global trends in climate change litigation: 2025 snapshot, 2025.; siehe auch: Joanna Setzer/Lisa Benjamin, Climate Litigation in the Global South: Constraints and Innovations, Transnational Environmental Law 9 (2020), 77–101.

[6] Conseil D´Etat, Commune de Grande-Synthe v. France, Urteil v. 1. 7. 2021.

[7] High Court, Friends of the Irish Environment v. The Government of Ireland, Urteil v. 19. 9. 2019.

[8] Verfassungsgerichtshof von [Süd-]Korea, Do-Hyun Kim et al. v. South Korea, Urteil vom 29.8.2024.

[9] EGMR, Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, App. No. 53600/20, Urteil v. 9. 4. 2024.

[10] IAGMR, Climate Emergency and Human Rights, Advisory Opinion v. 29.5. 2025, Case No. AO-32/25, Rn. 202.

[11] Siehe Etwa: OLG München, Urteil vom 12.10.2023, Az. 32 U 936/23; OLG Stuttgart, Beschluss vom 09.11.2023, Az. 12 U 170/22; LG Stuttgart, Urteil vom 13.09.2022, Az. 17 O 789/21, NJW 2022, 3522; für eine differenzierende Sichtweise siehe aber: OLG Hamm, Urteil v. 28.05.2025, Az. 5 U 15/17. Es gibt eine Vielzahl an Klagen in anderen europäischen Ländern, siehe zuletzt eine Entscheidung aus Italien: Corte Suprema di Cassazione, Greenpeace Italy et. Al. v. ENI S.p.A., the Italian Ministry of Economy and Finance and Cassa Depositi e Prestiti S.p.A., Urteil v. 21. 7. 2025.

[12] Gerechtshof Den Haag, Shell Plc. v. Stichting Milieu en Mens, Urteil v. 12.11.2024. Milieudefensie strengt aber ein neues Verfahren an, in dem es den Klageantrag ändert und auf den Ausstieg aus Investitionen in die Fossilenergie klagt.

[13] ITLOS, Climate Change and International Law, Advisory Opinion v. 21. 5. 2024, Case No. 31, Rn. 198 ff.

[14] Train Smelter Arbitral Tribunal, Trail Smelter (United States of America v. Canada), Arbitral Award v. 16. 4. 1938 und 11. 3. 1941, Reports of International Arbitral Awards Vol. 3, 1905–1982.

[15] IGH, Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil v. 20. 4. 2010, ICJ Reports 2010, 14.

[16] Vgl. IGH, Obligations of States (Fn. 1).

[17] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 393.

[18] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 252, 282, 403, 427–428.

[19] Sie veranlassten die Generalversammlung, dem IGH die Gutachtenfragen vorzulegen: UN, GV Resolution 77/276, 29.3.2023, A/RES/77/276.

[20] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 148–151, 301 ff., 405 ff.

[21] Siehe hierzu: IGH, Obligations of States in Respect of Climate Change, Declaration of Judge Nolte, insbesondere Rn. 14.

[22] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 138, 246, 253–254, 268, 343, 347.

[23] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 301–308.

[24] IGH, Obligations of States (Fn. 1), Rn. 184.

[25] Vgl.: Steven Bernstein, The Compromise of Liberal Environmentalism, New York: Columbia University Press 2001.

[26] Für diese und weitere Entwicklungen in dem Bereich, siehe: Europäische Kommission, Negotiations and Agreements.

[27] RL 2003/87/EG , Rn. 32–46.

[28] RL 2024/1760/EU; siehe auch Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), BGBl. I, 2959.

[29] RL 2022/2464/EU, Rn. 15–80.

[30] RL2025/794/EU.

[31] Foto: MPIL.

Kategorie Feature

Jannika Jahn ist seit 2020 Referentin am MPIL. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf dem internationalen Umwelt- und Klimarecht.

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