Kategorie: Feature

Von Bücherregalen, Schubladen und anderen Narrativen. Die völkerrechtsgeschichtlichen Altbestände des MPIL

„Der Westfälische Frieden ist eine der Geburtsstunden des modernen Völkerrechts, grundlegende Konzepte, wie die Gleichheit und Souveränität der Staaten, wurden hier das erste Mal in einem großen Friedensabkommen verhandelt. Dieses Erbe müssen wir bewahren.“[1]

Mit diesem engagierten Appell führte Annalena Baerbock in einem Interview im Vorfeld des Treffens der G-7-Außenministerinnen und -Außenminister in Münster 2022 explizit den genius loci der vormaligen ‚Friedensstadt‘ ins Feld, um ein Signal des Friedenswillens auszusenden. Angesichts der Konflikthäufung im frühen 21. Jahrhundert sind vergleichbare Allusionen, rhetorische Beschwörungen und – aus geschichtswissenschaftlicher Sicht – anachronistische Aufladungen des Westfälischen Friedens omnipräsent. Sie mindern jedoch nicht die rezeptive Bedeutungskraft des Friedensschlusses, mit dem am 24. Oktober 1648 die Gesandten Frankreichs und Schwedens, des Kaisers und der Stände des Heiligen Römischen Reiches den Dreißigjährigen Krieg (1618‑1648) beendeten. Mitte September 2023 fanden sich in Münster erneut Diplomat*innen und Sicherheitspolitiker*innen aus aller Welt ein, um sich in der Westfälischen Friedenskonferenz gemeinsamer Standpunkte zu versichern. Weder Ort noch Name sind Zufall, schrieb sich die Veranstaltung damit doch in ein Narrativ ein, welches eine vermeintlich seit 1648 bestehende völkerrechtliche Ordnung beschwört, zu deren Erhaltung man sich verpflichtet sieht.

Die völkerrechtliche Ordnung bedarf dieser Versicherungen aktuell ohne Zweifel – und die Verbindung zum Westfälischen Frieden und seiner Chiffre „1648“ ist alles andere als eine Modeerscheinung. Sie ist auch Institutionen wie dem Heidelberger MPIL eingebrannt. Biegt man nämlich im weit verzweigten Magazin des Instituts an der richtigen Stelle ab, steht man bald vor einer eindrucksvollen Sammlung von Rara, Büchern also, die vor 1800 gedruckt und seit 2002 in einer eigenen Abteilung des Magazins gebündelt wurden. Fata habent sua libelli – der oft bemühte Spruch gilt auch für diesen Altbestand „Völkerrecht“ der MPIL-Bibliothek. Denn das Bücherregal ist für sich genommen eine Schublade, in der sich – so man sie öffnet – eine geradezu typische, im 20. Jahrhundert geprägte geschichtswissenschaftliche und rechtswissenschaftliche Narrativbildung über die historische Entwicklung des Völkerrechts findet. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Narrativbildung ist Aufgabe, aber – wie zu zeigen sein wird – auch Begegnungsfläche beider Disziplinen.

Westfälischer Frieden(skongress) als Völkerrecht?

Gerard ter Borch: Allegorie auf Hugo Grotius und den Westfälischen Frieden, um 1648[2]

Nach den Wurzeln des modernen Völkerrechts zu fragen, führt meist ins 17. Jahrhundert. Zwei Meilensteine – eine Person und ein Ereignis – stechen hierbei heraus: der Niederländer Hugo Grotius (1583‑1645) und der Westfälische Friedenskongress (1643‑1649), auf dem besagter Friede in einem bis dato nicht gewesenen multilateralen Miteinander verhandelt wurde. Beide Linien sind verwoben in einem Gemälde aus der Schule Gerard ter Borchs, auf dem in die berühmte Szene der Beschwörung des Friedens von Münster zwischen Spanien und den Niederlanden das Epitaph des verstorbenen Rechtsgelehrten Grotius eingesetzt ist.[3] Völkerrechtsliteratur und Völkerrechtspraxis rücken hier bildlich zusammen. Ist erstere durch Grotius repräsentiert, findet die zweite Ausdruck in der symbolischen Darstellung des Westfälischen Friedenskongresses, der den Frieden von Münster (Januar 1648) und den Westfälischen Frieden (Oktober 1648) zum Ergebnis hatte. Der Dreißigjährige Krieg mit seiner Vielzahl von Parteien und Konflikten ließ in vielen gescheiterten beziehungsweise ungehaltenen Friedensfindungsversuchen die Erkenntnis zur multilateralen Verhandlung („Universalfrieden“) wachsen: Kongresse waren fortan das Organ völkerrechtlicher Verständigung im Sinne des ius inter gentes. Der Westfälische Frieden war damit epochenbildend, weil sich europäische Kriege nach 1648 de facto nur noch auf multilateralen Kongressen lösen ließen. Beispielhaft genannt seien die Kongresse bzw. Friedensschlüsse von Aachen 1668, Nijmegen 1678/79, Rijswijk 1697, Utrecht 1713/14, Aachen 1748 und Teschen 1779. Diese Reihe ist klassischer Ausdruck eines zeitgenössisch noch in statu nascendi befindlichen „Staatensystems“, in dem sich gegenseitig anerkennende Fürstenstaaten und Republiken als Völkerrechtssubjekte gleichberechtigt gegenübertreten. Das Gemälde der friedensschaffenden Gesandten um das Epitaph Grotius‘ zeigt, was heute in Vergessenheit zu geraten droht: Die vorrangige Bedeutung des Westfälischen Friedens liegt in seinem Zustandekommen und weniger in seinen Rechtsinhalten, die heute vielfach mit Toleranzbegriffen, Souveränitätsideen oder Globalisierungsgedanken missverständlich angefüllt werden.

Von Bücherregalen: Der Altbestand „Völkerrecht“ im MPIL

Die Separata-Sammlung heute[4]

Dieser duale, die Völkerrechtspraxis bei Kongressen wie auch die Völkerrechtsliteratur einbeziehende, Blick auf die frühneuzeitliche Völkerrechtsgeschichte spiegelt sich im Altbestand „Völkerrecht“ der MPIL-Bibliothek. Mit geschichtswissenschaftlicher Perspektive darauf geblickt wird deutlich, dass der Westfälische Friedenskongress chronologischer Ausgangspunkt der Sammlung ist: Im Regal finden sich vor allem die lange maßgebenden Akteneditionen des 18. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried von Meierns sechsbändige Acta Pacis Westphalicae publica, die französischen Négociations de Munster et d’Osnabruck oder die von Nicolas Clément 1710 herausgegebenen Briefeditionen zwischen Kardinal Mazarin und den französischen Gesandten in Münster, Mémoires et négociations secrètes de la cour de France, touchant la paix de Munster, um nur einige Beispiele zu nennen. Neben den klassischen Akteneditionen finden sich vormoderne Überblickswerke zum Westfälischen Frieden, wie die Histoire des traités de Westphalie und Drucke von Aufzeichnungen beteiligter Akteure, wie die anekdotenreichen Geschichtensammlung des reichsständischen Gesandten Adam Adami, die mehrbändigen Négociations de M. d’Avaux zum französischen Gesandten Claude de Mesmes, Comte d’Avaux, oder das Gesandtschaftsdiarium des kaiserlichen Gesandten Isaak Volmar im Corpus iuris publici sacri Romani imperii Germanici von 1710.

Neben den stark repräsentierten wichtigen älteren Quellenwerken zum Westfälischen Frieden und Friedenskongress setzt sich die Reihe der gedruckten Aktenwerke anhand der oben skizzierten Kongresskette fort: Die Verhandlungen zum Frieden von Nijmegen 1678/79 finden darin ebenso ihre Aktenpublikation wie der Frieden von Rijswijk 1697 (oder die Actes de la Paix d’Utrecht für den Kongress von 1711 bis 1713). Die Liste an vormodernen Akteneditionen zur Friedens- und Vertragsgeschichte der Vormoderne im Altbestand ließe sich problemlos erweitern.

Neben den völkerrechtlichen Beständen erscheinen hier auch stattliche Bestände von „Diplomatenspiegeln“ – Best‑practice‑Veröffentlichungen von Praktikern der internationalen Beziehungen, den „Diplomaten“ avant la lettre. Neben den in der Diplomatiegeschichte gängigen Klassikern von François de Callières“L’art de négocier” von 1716, Vera y ZúñigasLe parfait Ambassadeur” von 1642 oder einer Ausgabe von Abraham de Wicqueforts Botschafterspiegel von 1677 fallen zudem die Buchrücken diplomatischer Selbstzeugnisse und Memoiren entscheidender Akteure auf dem Verhandlungsparkett des Ancien Régime in den Blick: Hierzu gehören die posthum veröffentlichten Memoiren des „Außenministers“ Ludwigs XIV., Jean Baptiste Colbert de Torcy, oder die Briefe des französischen Verhandlungsführers vom Friedenskongress in Nijmegen, dem Maréchal d‘Éstrades.

Kurzum: Das reichhaltige Material zeigt, dass im Heidelberger Max‑Planck‑Institut nicht allein frühneuzeitliche Völkerrechtsliteratur gesammelt wurde, sondern neben den theoretischen Klassikern die praktische Seite der Kongresse, der Verhandler (Memoiren und Briefe) und der diplomatischen Praktiken, der “art de négocier“, Berücksichtigung fanden.

Von Schubladen: Der Westfälische Frieden als Völkerrechtsgrundlage?

Die in diesem Bücherregal abgebildete Bedeutung des Westfälischen Friedens und der folgenden europäischen Friedenskongresse ließe sich leichthin in eine in der medialen Berichterstattung und in Politiker*innenreden beliebte Schublade stecken: Sie wird als Westphalian System bezeichnet und beschreibt die Vorstellung, dass mit dem Friedensschluss vom Oktober 1648 ein Souveränitäts-, Territorialitäts- und Egalitätsprinzip zwischen Staaten etabliert worden sei, das nachfolgend die „internationale Ordnung“ gleichberechtigter Staaten reguliert hätte. Dieses Denkmodell wurde in der älteren Völkerrechts- und Politikgeschichtswissenschaft teilweise langfristig mythologisiert[5]und – sei es in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oder in medialen Berichterstattungen zum Friedensjubiläum – auch heute noch gepflegt.[6]

Doch nichts davon steht in den Westfälischen Friedensinstrumenten oder beschriebe zutreffend die internationale Ordnung bis ins 19. Jahrhundert. Die beständigen Dekonstruktionen des „Westfälischen Systems“ aus der Frühneuzeit-Geschichtswissenschaft oder der Völkerrechtsgeschichte vermögen dieses Bild auch nicht zu korrigieren. Dabei steht nicht die völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens grundsätzlich zur Disposition, vielmehr aber die Wirkmacht dieser Bedeutung: Diese gilt nämlich nicht, weil seit 1648 ein Ist-Zustand unmittelbar festgeschrieben gewesen wäre, sondern weil der Westfälische Frieden noch bis in die Revolutionszeit um 1800 als Referenzfriede Grundlage jeder weiteren internationalen Ordnung in einem „Droit des gens contracté“ wurde.[7] Wiederum – so könnte man dies thesenartig zuspitzen – ist es nicht der geschriebene Vertrag, sondern seine Wirkmacht in der longue durée, die seinen Zäsurcharakter für die Völkerrechtsentwicklung ausmacht.

In der Forschung wurde bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die Idee vom Westfälischen Frieden als einer „Grundverfassung des Staatensystems“ durchaus schon im 18. Jahrhundert ihren Ursprung nahm. 1648 wurde durch Völkerrechtstheoretiker und -praktiker zu einer völkerrechtsgeschichtlichen Zäsur, und erst nach 1806 verlor der Friedensschluss von 1648 „in der deutschsprachigen Welt“, so der Marburger Historiker Christoph Kampmann, „angesichts des wachsenden Einflusses nationalstaatlichen Denkens seinen Nimbus“,[8] nicht aber im französisch- und englischsprachigen Raum. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die neuere Völkerrechtsgeschichte und das in den Politikwissenschaften/International Relations prädominante Narrativ vom „Westfälischen System“ eine neue Schublade aufmachen. Seitdem verfestigte sich der Aufstieg des Narrativs vom „Westfälischen System“, der internationalen Staatenordnung auf den Prinzipien von entkonfessionalisierter Souveränität und Gleichberechtigung. Stilbildend war der Aufsatz des Völkerrechtlers und Völkerbund-Diplomaten Leo Gross im American Journal of International Law von 1948,[9] dessen Verständnis vom Gegenwartsbezug des Westfälischen Friedens sich bis heute in verschiedenen Disziplinen, medialen und politischen Äußerungen hält.[10]

Von anderen Narrativen: Ernst Reibsteins ‚Heidelberger‘ Rezeption des Westfälischen Friedens

Ernst Reibstein und Ulrich Scheuner auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht im Institut, 25.-27. April 1965[11]

Allzu leicht wäre es nun festzustellen, dass auch die Völkerrechtsgeschichte am Heidelberger MPIL diesem Zug folgte, um dann schulmeisterlich die Frühe Neuzeit, „wie sie eigentlich gewesen“, korrektiv einzubringen. Doch bezeichnenderweise blieb diese Schublade vom „Westfälischen System“ im Heidelberger MPIL verschlossen.

Zumindest bietet sich dieser Befund, wenn man auf die Forschungen des Heidelberger Völkerrechtshistorikers Ernst Reibstein (1901‑1966) blickt, der nicht nur vielfach in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) publiziert hat, sondern – als Privatgelehrter ohne Beschäftigungsverhältnis am Institut[12]– ein häufiger Nutzer[13] und womöglich auch Kompilator[14] des besagten Altbestands war. Ernst Reibstein, der mit seinen zahlreichen Studien zur Geschichte des Völkerrechts am Heidelberger Institut akademisch herausstach, widmete sich in seinen Schaffensjahren in den Jahrzehnten vor und nach 1960 häufig der vormodernen Völkerrechtsentwicklung und insbesondere auch dem Westfälischen Frieden. Seine Beschäftigung mit der Materie ragt dabei in besonderer Weise heraus: Denn Reibsteins Einordnung des Westfälischen Friedens, der Friedenskongresse und Verträge in die Geschichte des Völkerrechts – kurz gesagt: sein Blick auf die im Heidelberger Altbestand abgebildeten Werke – war geprägt von Gabriel Bonnot de Mably (1709‑1785) und seinem Hauptwerk Droit public de l‘Europe fondé sur les traités depuis la paix de Westphalie jusqu’à nos jours (erstmals 1748). Mably sah im Westfälischen Frieden 1648 einen Wendepunkt im völkerrechtlichen Vertragsrecht und gehörte damit zu den völkerrechtlichen Denkern, bei denen Kampmann jüngst die Ursprungserzählung vom „Westfälischen System“ verortet hat.

Eine der am MPIL vorhandenen Ausgaben von Gabriel Bonnot de Mablys Droit public de l‘Europe fondé sur les traités depuis la paix de Westphalie jusqu’à nos jours von 1776

Reibstein beschäftigte sich ausführlich mit Mably.[15] Mittlerweile sind die Mably-Forschung und deren Wiederentdeckung reiflich fortgeschritten, doch entscheidend scheint an dieser Stelle vielmehr Reibsteins Rezeption in den 1950er Jahren, die dieser jüngeren Mably-Rezeption[16] vorausging. Denn, indem Reibstein nach 1945 auf Mably aufbaute, gelangte er zwar zu einem ähnlichen Urteil über die Bedeutung des Westfälischen Friedens wie das „Westfälische-System“-Narrativ, wobei er dieses jedoch an eine völkerrechtsgeschichtliche Tradition anschloss, die zwischen 1806 und 1945 im deutschen Wissenschaftsbereich als verloren galt. Reibstein stellte sich allein auf die Füße der Tradition, die im 18. Jahrhundert den Westfälischen Frieden zur Zäsur eines völkerrechtsbasierten Staatensystems erhoben hatte.

„Indem der Westfälische Frieden das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches in den Zusammenhang der allgemein europäischen Staatenbeziehungen stellte, schuf er den Begriff des droit public de l’Europe.“[17]

Die Ergebnisse mögen ähnlich klingen, doch entscheidend ist der jeweilige Argumentationsweg: Wie schon Mably, der im Dienste des französischen Außenministers als Sekretär manchen Vertrag selbst verhandelt hatte, rückt Reibstein nämlich neben der theoretischen Literatur die völkerrechtliche Praxis in den Mittelpunkt seiner völkerrechtsgeschichtlichen Überblicke, also genau jene Kongresse, Diplomaten und diplomatischen Praktiken, die der Altbestand des Instituts so mustergültig abbildet. In seinem Überblick reproduziert Reibstein das Mably’sche Bild der völkerrechtlichen Ordnung vor 1806, in der „die großen Friedenskongresse der folgenden Jahrzehnte Europa nach Art des Corpus Germanicum in ein mit Garantien umgebenes Gleichgewicht der Kräfte zu bringen suchten und gewisse territoriale, dynastische oder konstitutionelle Interessen als politische und zugleich völkerrechtliche Doktrinen unter den Schutz des droit public stellten“ .[18] Für dieses droit public seien, so Reibstein, „die Briefsammlungen oder Memoiren der beteiligten Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten von größerem Interesse als die zahlreichen, zu den Einzelproblemen erschienenen juristischen Untersuchungen […]“[19]Das Völkerrecht bleibt damit kein Produkt philosophischer Naturrechtsetzung, sondern ist wie schon bei Mably kasuistisch und zugleich mit den Brillen der geschichtswissenschaftlichen wie auch der rechtswissenschaftlichen Disziplin zu lesen.[20]

Doch nicht nur die historisierende Lesart der Völkerrechtsgeschichte und der Bezug auf Mably heben Reibsteins Darstellung von seinen Zeitgenossen ab. Auch seine Urteilsfindung differenziert: Denn wo Mably die auch vom „Westfälischen-System“-Narrativ stark gemachte Gleichheit souveräner Staaten nach 1648, die bis in die Epoche der Mitlebenden andauere und zu der die Frühneuzeitforschung heute nur die Augen verdreht, betont, hält Reibstein fest: „Die ‚gekrönten Häupter der Christenheit‘ oder ,Potentaten in Europa‘ verstanden ihr gegenseitiges Verhältnis auch nach dem Westfälischen Frieden als eine Hierarchie, über deren Stufen freilich weder Klarheit noch Einigkeit herrschte“.[21]

Fata habent sua libelli – Interdisziplinarität durch „Regalstudien“

Foto: Volker Lannert/Universität Bonn.

Die Quellendichte des Heidelberger Altbestands und Reibsteins Rezeption der Kasuistik Mablys grenzen seine Darstellung der Völkerrechtsgeschichte ab von Beschreibungsversuchen, die ein „Westfälisches System“ aus der Taufe hoben. Reibstein nahm eine Völkerrechtstradition auf, die neben Literatur mit frühneuzeitlicher diplomatischer Praxis argumentierte und die gerade in der deutschsprachigen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist – aber eben nicht in Heidelberg.

In diesem Lichte steht der völkerrechtsgeschichtliche Altbestand des MPIL für eine gleichsam geschichts- und rechtswissenschaftliche Herangehensweise an das Völkerrecht, die in Quellen und methodisch erschlossener diplomatischer Praxis fundiert. Zeitgenössisch zu Reibsteins Darstellungen ergänzt sich diese Sicht auf die Geschichte des Völkerrechts durch eine weitere Absetzungsbewegung vom „Westfälischen System“ in den 1950er Jahren: Noch zur Mitte dieses Jahrzehnts entstand unter der Ägide des Bonner Historikers Max Braubach und in enger Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium die Idee, die großen Friedensprozesse und -kongresse der Neuzeit in kritischen Quelleneditionen besser zu ergründen. Geboren war damit eine Historikerkommission unter dem breit angelegten Namen der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, in deren Erbe noch heute am Bonner Zentrum für Historische Friedensforschung Grundlagenforschung zum Westfälischen Frieden betrieben wird. Völkerrechtshistoriker*innen können 2024 auf mittlerweile 48 Bände kritischer Aktenedition zurückgreifen – ein moderner Editionsbestand, der sich glücklicherweise ebenfalls in der Bibliothek des MPIL findet und zum Großteil auch digital verfügbar ist.

Die Buchdeckelreihen im Altbestand des MPIL präsentieren die Kongresse und die diplomatische Praxis der Vormoderne als Gestaltungsräume völkerrechtlicher Ordnung, in denen geregeltes Miteinander sich verdichtender Staatswesen entstand. So wie Geschichtswissenschaft hier aus der Völkerrechtsgeschichte Rückschlüsse ziehen kann, so macht dieser Befund auch – im Sinne Reibsteins – deutlich, dass die diplomatische Praxis, das Zustandekommen und Funktionieren der Kongresse, wie es die Historische Friedensforschung untersucht, ihre gleichwertige Relevanz für die Völkerrechtsgeschichte haben.

Dieses fatum der Bücher im Altbestand am MPIL ist auch noch im vierten Jahrhundert des Westfälischen Friedens ernst zu nehmen und verweist auf die Notwendigkeit, Narrative quellenkritisch auf den Prüfstand zu stellen. Nur mit diesen Fundierungen lässt sich den heutigen Bedeutungen der Vertragswerke gerecht werden, und nur so werden Bemühungen der Politik um Anknüpfungsversuche, wie zum Beispiel im Zuge der Debatte über ein Westphalia for the Middle East, des Treffens der G7-Außenminister*innen im Münsteraner Friedenssaal 2022 oder auch der dortigen „Westfälischen Friedenskonferenz“ 2023, zu wirklich nachhaltigen und eindrücklichen Symbolakten.

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Ergänzende Auswahlbibliographie

Randall Lesaffer, War, Peace, Interstate Friendship and the Emergence of the ius publicum Europaeum, in: Ronald G. Asch/ Wulf Eckart Voß/ Martin Wrede (Hrsg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen, 2. Bd.: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 87–113.

Andreas Osiander, „This Solemn, And Ever Memorable and Sacred Treaty“: Perceptions of the Peace of Westphalia in the later Ancien Régime, Manuskript o.O., 2009.

Heinhard Steiger, Der Westfälische Frieden – Grundgesetz für Europa, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.): Der Westfälische Friede: Diplomatie – Politische Zäsur – Kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, Historische Zeitschrift Beihefte Bd. 26, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag,  33–80.

[1] Claudia Kramer-Santel/Andreas Fier, Symbolischer Ort in schwieriger Zeit. Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit den Westfälischen Nachrichten zum Treffen der G7-Außenministerinnen und Außenminister in Münster, Auswärtiges Amt Newsroom, von Claudia Kramer-Santel und Andreas Fier, 2. November 2022.

[2] Bild: gemeinfrei.

[3] Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatinteresse. Internationale Beziehungen 1559- 1660, Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen Bd. 2, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007.

[4] Foto: MPIL.

[5] Siehe: Paolo Amorosa, Rewriting the History of the law of Nations. How James Brown Scott made Francisco de Vitoria the Founder of International Law, Oxford: Oxford University Press 2019.

[6] Vgl. bspw.: Tom Ginsburg, Eastphalia as the Perfection of Westphalia, Indiana Journal of Global Legal Studies 17 (2010), 27–45; Reinhard Meyers, From Westphalia to Westfailure? Internationale Akteure und die Fallstricke Humanitäter Intervention, in: Joachim Gardemann/ Franz-Josef Jakobi/ Bernadette Spinnen (Hrsg.): Humanitäre Hilfe und staatliche Souveränität, Münster: Aschendorff 2012, 83–102; siehe: Jonas Bechtold, A Web of Peaces: Twitter Narratives on the Peace of Westphalia, in: Florian Helfer et al., Overcoming Conflict. History Teaching – Peacebuilding – Reconciliation, Wiesbaden: Springer 2023, 235–258; Michael Rohrschneider, Zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens. Lernen aus der Geschichte?, Forschung und Lehre 30 (2023), 862–863.

[7] Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts. Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der Frühen Neuzeit, Colloquia Augustana Bd. 34, München: De Gruyter 2016.

[8] Christoph Kampmann, Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik. Präfigurationen des „Westfälischen Systems“ im 18. Jahrhundert, in: Friedrich Kießling/Caroline Rothauge (Hrsg.), Außenbeziehungen und Erinnerung. Funktionen, Dynamiken, Reflexionen, München: De Gruyter 2021, 21–36, 35.

[9] Leo Gross, The peace of Westphalia 1648–1948, American Journal of International Law 42 (1948), 20–41.

[10] Peter M.R. Stirk, The Westphalian model and sovereign equality, in: Review of International Studies 38 (2012), 641–660; Benjamin de Carvalho/Jorg Kustermans, The modern Westphalian Peace Impasse in International Relations and what to do about it, in: Dorothée Goetze/Lena Oetzel (Hrsg.), Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Schriftenreihe zur Neueren Geschichte Bd. 39, Neue Folge 2, Münster: Aschendorff 2019, 93–106.

[11] Foto: MPIL.

[12] Hermann Mosler, Nachruf auf Ernst Reibstein, ZaöRV 26 (1966), 493–494.

[13] Zumindest kann für den Überblicksaufsatz Reibsteins zum Völkerrecht vor 1806 festgehalten werden, dass ein Großteil der angeführten Werke im Altbestand des MPIL vorhanden ist. Der wissenschaftliche Nachlass Reibsteins befindet sich noch heute im MPIL.

[14] Die einzelnen Provenienzen und Ankäufe der Seperata sind nicht systematisch erfasst. Die Möglichkeit, dass Reibstein an der Zusammenstellung beteiligt war, ist jedoch nicht auszuschließen. Wir danken dem freundlichen Hinweis von Joachim Schwietzke und Philipp Glahé.

[15] Ernst Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Bd. I: Von der Antike bis zur Aufklärung, Freiburg/München: Karl Alber 1957, 534-553; Ernst Reibstein, Die Völkerrechtskasuistik des Abbé de Mably, ZaöRV 18 (1957/58), 229–260.

[16] Hans Erich Bödeker/ Peter Friedemann (Hrsg.): Gabriel Bonnot de Mably: Politische Texte 1751–1783, Baden-Baden: Nomos 2000; Kampmann (Fn. 8).

[17] Ernst Reibstein, Das „Europäische Öffentliche Recht“ 1648–1815. Ein institutionengeschichtlicher Überblick, Archiv des Völkerrechts 8 (1960), 385–420, 386.

[18] Reibstein, Das Europäische Öffentliche Recht (Fn. 17), 386.

[19] Reibstein, Das Europäische Öffentliche Recht (Fn. 17), 386.

[20] Vgl. Reibstein, Völkerrechtskasuistik (Fn. 15), 259.

[21] Reibstein, Das Europäische Öffentliche Recht (Fn. 17), 390.