Die völkerrechtliche Beratung der Bundesregierung ist seit jeher eine Kernaufgabe des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL): „Das Institut steht öffentlichen Einrichtungen, insbesondere internationalen und europäischen Institutionen, dem Bundesverfassungsgericht, dem Deutschen Bundestag und Ministerien des Bundes sowie der Länder für Auskünfte, Gutachten und Beratung in völkerrechtlichen, unionsrechtlichen und sonstigen öffentlich-rechtlichen Fragen zur Verfügung.“ Diese Aufgabe möchte ich hier aus der Perspektive der Praxis genauer beleuchten. Mein Interesse an dem Thema gründet dabei nicht zuletzt auf meinem persönlichen Werdegang, der mich vom MPIL in die Bundesregierung, genauer gesagt in das Bundesministerium der Justiz geführt hat.
Mein erster Kontakt mit dem MPIL entstand noch im Studium durch meine Teilnahme am Concours René Cassin 1999/2000, ein Moot Court zur Europäischen Menschenrechtskonvention in französischer Sprache. Das Heidelberger Cassin-Team war am Institut angesiedelt und wurde von Karen Kaiser mit großem Engagement betreut.[1] Viele Institutsmitglieder – von wissenschaftlichen Mitarbeitern/innen über Referenten/innen bis zu den Direktoren – gaben uns in zahlreichen Probe-Pleadings nicht nur inhaltliche Anregungen, sondern auch rhetorische Tipps. Die große Unterstützung durch das Institut hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Heidelberger Team als Vertreter des beschwerdegegnerischen Staates den ersten Platz belegen konnte. Der Concours Cassin war für mich nicht nur ausschlaggebend dafür, nach dem ersten Staatsexamen im Herbst 2001 als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Institut zurückzukehren, er hat auch mein Interesse und mein Engagement für Menschenrechte und insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention nachhaltig geweckt. Es ist bedauerlich, dass heute keine Heidelberger Teams mehr am Wettbewerb teilnehmen und das Interesse deutscher Universitäten insgesamt stark abgenommen hat.[2]

Das Team des Concours René Cassin mit Institutsdirektor Jochen Frowein 2000 (v.l.n.r.): Team-Betreuerin Karen Raible, Heike Stadtmüller, Nicola Wenzel (damals Vennemann) und Christian Maierhöfer[3]
Das europäische Menschenrechtssystem war Anfang der 2000er Jahre in einer Aufbruchstimmung: Die große Reform von 1998 war abgeschlossen, der „neue“ Gerichtshof hatte die Arbeit aufgenommen und etablierte sich mit seinen Urteilen als einer der Hauptakteure des Menschenrechtsschutzes in Europa. Viele der damaligen Entscheidungen sind heute noch wichtige Referenzpunkte der menschenrechtlichen Diskussion. So wurden mit den Urteilen Öneryildiz[4] und Hatton[5] Bausteine der heutigen Umweltrechtsprechung gelegt; die Bankovic-Entscheidung[6] definierte die territoriale Reichweite der Konventionsrechte neu; die Görgülü-Saga lenkte die Aufmerksamkeit auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und führte zu einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Stellung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in der deutschen Rechtsordnung.[7] Mir fiel es zu, diese Leitentscheidungen in der wöchentlichen Referentenbesprechung vorzustellen und zu bewerten.[8] Als junge wissenschaftliche Mitarbeiterin vor Rudolf Bernhardt als ehemaligem Präsidenten des EGMR und Jochen Abr. Frowein als ehemaligem Vizepräsidenten der Europäischen Menschenrechtskommission zu EMRK-Fragen vorzutragen und sich den kritischen Fragen insbesondere von Jochen Abr. Frowein zu stellen, war eine intellektuelle Herausforderung, der ich anfänglich mit einer gewissen Aufregung begegnete, die aber zunehmend zur Freude wurde und mein wissenschaftliches Selbstbewusstsein stärkte.
Heute bin ich als Verfahrensvertreterin der Bundesregierung vor dem EGMR und Leiterin des Menschenrechtsreferats im BMJ praktisch tätig. Mein wissenschaftlicher Hintergrund ist für mich Fundament meiner praktischen Arbeit und zugleich wichtiges Korrektiv, weil er mich zu kritischer Reflexion und Offenheit für andere Sichtweisen anregt. Ich bin der festen Überzeugung, dass der ergebnisoffene Austausch mit der Wissenschaft für gute Rechtssetzung und Regierungsarbeit essentiell ist.
Vor diesem Hintergrund möchte ich anhand von vier Thesen das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis im Allgemeinen beleuchten, Entwicklungen in diesem Verhältnis skizzieren, das MPIL in dieser Landschaft verorten und Zukunftsperspektiven aufzeigen.
These 1: Die Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis wird zu oft als einseitiger Wissenstransfer von der Wissenschaft in die Praxis gesehen. Diese Sichtweise greift zu kurz.

Austausch von Theorie und Praxis: Auswärtiges Amt und MPIL veranstalten regelmäßige Workshops[9]
Es gibt viele Gründe, warum die Erfahrungen der Praxis für die Wissenschaft relevant sind. So kann ein Input aus der Praxis bei der Auseinandersetzung mit Forschungsfragen wichtige Erkenntnisse liefern. Ein Input aus der Praxis ist aber auch zur Identifizierung von Forschungsfragen wichtig:
In der praktischen Arbeit tauchen häufig rechtliche Fragen auf, die in der Wissenschaft noch nicht oder nur unzureichend beleuchtet sind. Ein aktuelles Beispiel ist die Frage der Vollstreckbarkeit von Ansprüchen auf gerechte Entschädigung aus EGMR-Urteilen gegen Russland in anderen Mitgliedstaaten des Europarates.
Der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis kann gewährleisten, dass Forschung zu den in der Praxis relevanten Fragestellungen stattfindet. Im besten Fall kann er dazu führen, dass ganz neue Forschungsfelder erschlossen werden. Ein gutes Beispiel ist der Zugang zur Abhilfe bei Menschenrechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten. Der Fokus der Diskussion in der menschenrechtlichen Analyse war lange Zeit der gerichtliche Rechtsschutz. Außergerichtliche Mechanismen wurden zwar erwähnt, ihr Potential aber nicht erschlossen. Bestehende Forschung zu außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen („Alternative Dispute Resolution“) und der Frage ihrer wirksamen Ausgestaltung war in der Menschenrechts-Community nicht bekannt. Dies hat sich durch die Vergabe eines Forschungsvorhabens zur Ausgestaltung außergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten an eine ADR-Wissenschaftlerin grundlegend geändert. Das Forschungsvorhaben hat nicht nur dazu geführt, dass wesentliche Erkenntnisse aus der ADR-Forschung für die Gestaltung von außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen im Rahmen von Lieferketten fruchtbar gemacht werden konnten, sondern auch dazu, dass Mechanismen der alternativen Streitbeilegung im Lieferkettenkontext nun in der ADR-Forschung als neues Forschungsfeld verankert sind.
In der Praxis ist viel Expertise vorhanden. Diese wird jedoch nicht immer nach außen getragen. Insbesondere bei Fragestellungen, die in politischer Hinsicht sensibel sind, besteht große Zurückhaltung in der öffentlichen Kommunikation. Das bedeutet aber nicht, dass nicht innerhalb der Bundesregierung verschiedene Lösungsmöglichkeiten für rechtliche Probleme bekannt sind und diskutiert werden. In vielen Fällen findet die Diskussion über aktuelle rechtliche Fragestellungen hier sogar früher statt als in der Wissenschaft.
Vor diesem Hintergrund bedarf es nicht nur mehr Veranstaltungsformaten, die Wissenschaft und Praxis zusammenbringen. Förderlich erscheint mir auch ein personeller Austausch in beide Richtungen. Neue Formen sollten dabei in den Blick genommen werden. So könnten Wissenschaftler/innen zum Beispiel projektbezogen für eine gewisse Zeit im Ministerium arbeiten. Umgekehrt könnten Möglichkeiten für Praktiker geschaffen werden, zeitweise wissenschaftlich zu arbeiten, zum Beispiel durch gemeinsame Forschungsprojekte oder im Rahmen von Forschungsgruppen.
These 2: Der Austausch von Wissenschaft und Praxis ist häufig von einem clash of cultures geprägt.
Das Aufeinanderprallen der Kulturen betrifft sowohl die Ziele und die Arbeitsweise als auch die Inhalte und die Darstellung. Greifbar wird es zum Beispiel bei der Zusammenarbeit mit externen Verfahrensvertretern/innen bei Verfahren vor internationalen Gerichtshöfen. Das Arbeiten in Hierarchien, die kleinteilige Abstimmung von Stellungnahmen zwischen den Ressorts (die zu langwierigen Diskussionen, zum Teil über einzelne Wörter, führen können), der Einfluss politischer Erwägungen – all das ist täglich Brot für Ministerialbeamte/innen, wirkt aber auf Außenstehende häufig befremdlich. Andersherum ist aus Ministeriumssicht gewöhnungsbedürftig, wenn Stellungnahmen vermeintlich aus einer Position der „reinen Lehre“ verfasst werden oder in der Erwartung, dass die wissenschaftliche Stellungnahme vom Ministerium unverändert bei den Gerichten eingereicht wird. Wenn jedoch Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden und auf allen Seiten Offenheit für andere Sichtweisen und Herangehensweisen besteht, ist ein solcher clash of cultures gewinnbringend und führt bei allen Beteiligten zu neuen Erkenntnissen und in der Sache zu guten Ergebnissen.
Er zeigt aber auch, dass ein langfristig angelegter Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis hilfreich ist, in dem neben inhaltlich-thematischen Fragen auch Fragen zu Formen der Zusammenarbeit, Arbeitsweisen, Erwartungen und Bedürfnissen diskutiert werden. Ein solcher „Dialog über den Dialog“ kann Vertrauen schaffen. Er wird zum Beispiel sehr erfolgreich, u.a. durch öffentliche Veranstaltungen im Mercator Science-Policy Fellowship-Programm der Rhein-Main-Universitäten praktiziert. Der in den letzten Jahren in vorbildlicher Art und Weise entwickelte Bereich „Wissenschaft in Öffentlichkeit“ des MPIL ist bestens aufgestellt, um den Diskurs über den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis in diesem Sinne weiterzuentwickeln.
These 3: In der Praxis besteht ein steigender Bedarf an intra- und interdisziplinärer Forschung.
Mit dem eingespielten System der intra- und interministeriellen Abstimmung und Zusammenarbeit verfügt die Praxis über ein funktionierendes System zum Umgang mit der zunehmenden Verzahnung der Rechtsgebiete. Die deutsche Wissenschaft praktiziert den übergreifenden Austausch dagegen weniger systematisch.
Die oben bereits erwähnte Lieferkettenregulierung ist ein gutes Beispiel für das Ineinandergreifen verschiedener Rechtsgebiete. Während der Ausgangspunkt der Regulierung menschenrechtlich ist und völkerrechtliches soft law umgesetzt wird (United Nations Guiding Principles on Business and Human Rights), müssen die verbindlichen nationalen oder europäischen Normen eine Übersetzung dieser Standards ins Privatrecht vornehmen. Menschenrechtliche Pflichten der Unternehmen müssen hinreichend bestimmt statuiert werden, um sie auch mit Hilfe des Privatrechts durchsetzbar zu machen. Sowohl das Schadensersatzrecht als auch das Internationale Privatrecht spielen dabei eine wichtige Rolle. Die dafür erforderliche enge Verzahnung von Völkerrechtswissenschaft und Zivilrechtswissenschaft hat eine Weile auf sich warten lassen, ist inzwischen aber im Bereich der Lieferkettenregulierung fest etabliert.
Aus den genannten Gründen eines Ineinandergreifens verschiedener Rechtsgebiete ist für die Beratung der Regierung in völkerrechtlichen Fragen eine völkerrechtliche Expertise allein nicht immer ausreichend. Das MPIL hat beste Voraussetzungen, ein dem Bedarf der Regierungspraxis entsprechendes Angebot qualitativ hochwertiger wissenschaftlicher Expertise zu machen. Durch die gezielte Nutzung des Max Planck Law-Netzwerks und der Kooperationsmöglichkeiten innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft könnten verstärkt Beratungsangebote im Bereich der intra- und interdisziplinären Forschung geschaffen werden.
These 4: Es besteht die Gefahr, dass wissenschaftliche (und fachliche) Expertise für die Entwicklung politischer Positionen und Rechtsauffassungen an Bedeutung verliert.
Wissenschaftliche Expertise wird vermehrt zur Legitimierung bestehender politischer Positionen und Rechtsauffassungen genutzt, auch von Verbänden und der Zivilgesellschaft. Es besteht die Gefahr, dass der ergebnisoffene Austausch mit der Wissenschaft, der dazu dient, politische Positionen erst zu entwickeln, darüber an Bedeutung verliert. Aus der Wissenschaft ist bereits die Sorge zu hören, dass das Völkerrecht an sich nicht mehr als maßgeblicher Orientierungspunkt in der politischen Debatte wahrgenommen wird.[10]
Gerade in politisch unruhigen Zeiten ist es essentiell, dass sich Wissenschaft und Praxis gemeinsam für die Beachtung völkerrechtlicher Normen einsetzen. Eine proaktive Vermittlung von Forschungserkenntnissen durch die Wissenschaft und der Aufbau institutionalisierter Kooperationen können mit dazu beitragen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Entwicklung politischer Positionen und Rechtsauffassungen Berücksichtigung finden. Auch hier kann das MPIL einen wichtigen Beitrag leisten.
Ausblick
Die Geschwindigkeit im politischen Betrieb nimmt zu. Rechtlich komplexe Fragen müssen in kürzester Zeit beantwortet werden. Für einen formalisierten Austausch mit der Wissenschaft fehlt häufig die Zeit. In anderen Fällen wird ein formalisierter Austausch den Bedürfnissen nicht gerecht. Gerade bei politisch sensiblen Themen kann es hilfreich sein, Ansprechpartner/innen zu haben, mit denen man vertraulich Probleme und Lösungsoptionen diskutieren kann. Die Nutzung informeller Austauschformate setzt jedoch Vertrauen voraus. Dieses zu schaffen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.
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Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Verfasserin wieder.
[1] Vgl., zur Moot Court-Betreuung durch das Institut:Felix Herbert, Der Jessup Moot Court am MPIL. Geschätzter Gast oder geschuldete Last? Zur fragilen Geschichte eines symbiotischen Verhältnisses, MPIL100.de.
[2] 2024 war die Universität Münster als einzige deutsche Universität im mündlichen Teil des Wettbewerbs vertreten, vgl.: Association du Concours Européen des droits de l’homme René Cassin, Équipes requérantes qualifiées pour la phase orale (par ordre alphabétique), Strasbourg 2024.
[3] Foto: Nicola Wenzel, private Aufnahme.
[4] EGMR (Große Kammer), Öneryildiz v. Turkey, App. No. 48939/99, Urteile v. 18.6.2002 und 30.11.2004.
[5] EGMR (Große Kammer), Öneryildiz v. Turkey, App. No. 36022/97, Urteile v. 2.10.2001 und 8.7.2003.
[6] EGMR (Große Kammer), Banković et al. v. Belgien et al., App. No. 52207/99, Entscheidung v. 12.12.2001.
[7] BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04; siehe auch: EGMR, Görgülü v. Deutschland, App. No. 74969/01, Urteil v. 26.2.2004.
[8] Zur Referentenbesprechung und der Rolle, die der EMRK in ihr zukam, vgl.: Matthias Hartwig, Das wissenschaftliche Hochamt. Die Referentenbesprechung (vulgo Montagsrunde) am Institut, MPIL100.de.
[9] Foto: MPIL.
[10] Helmut Philipp Aust, Heike Krieger, Die allerneueste deutsche Angst ist Bindungsangst, FAZ, 6. Februar 2025, 11; der Text wurde in englischer Sprache am 13. Februar 2025 vom Verfassungsblog veröffentlicht.

Nicola Wenzel leitet das Referat für Menschenrechte im Bundesministerium der Justiz und ist Verfahrensbevollmächtigte der Bundesregierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.