Im Spiegel des Mauerfalls. Die Identität des Instituts im „Der 9. November 1989 in Deuna, am Morgen danach“

„Der 9. November 1989 in Deuna am Morgen danach“ von H.D. Tylle, Öl/Leinwand, 230 x 630 cm (Foto: MPIL)

Die Niederlagen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg bilden critical junctures, von denen aus sich der deutsche Weg im 20. Jahrhundert und damit die Existenz, die Positionen und die Forschung des Instituts verstehen. Wenig zeigt die Prägekraft dieser Niederlagen anschaulicher als die 40-jährige Teilung Deutschlands, die eine Unmenge an Fragen im Forschungsfeld des Instituts generierte: der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für Deutschland, der Status von Berlin West als Teil der Bundesrepublik, die Rechtsnatur der DDR, die Ost‑ und Entspannungspolitik, die westdeutsche Eingliederung in die europäische Integration, in die NATO, in den von den USA geführten Westen, sowie dann nach dem Mauerfall die vielen Fragen der deutschen und europäischen Einigung und einer neuen Weltordnung.

Aus diesem Grund eröffnet ein Bild, das den Moment fasst, an dem diese Teilung zu enden beginnt, einen guten Weg, um sich mit der Identität des Instituts auseinander zu setzen. Das gilt insbesondere, wenn das Bild so detailreich und symbolträchtig ist wie H.D. Tylles „Der 9. November 1989 in Deuna, am Morgen danach“.

Mit seinen 630 x 230 cm dominiert das Bild den Eingangsbereich des Instituts. Die Monika Marlene und Max Dietrich Kley Stiftung hat es dem Institut als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Es dominiert zurecht, denn es vermittelt eine Idee der Forschung, die das Institut in den letzten 70 Jahren beschäftigt hat, und enthält sogar eine Idee für künftige Forschung zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerecht.

Das Bild hing unter anderem bereits im Deutschen Historischen Museum und in der Mannheimer Kunsthalle. Klaus Schönmetzler und Eckard Wagner haben das Bild beschrieben. Meine Interpretation schöpft daraus, fügt aber zwei Interpretationen hinzu: das Wahrheitsverständnis, das ich in Tylles Realismus sehe, und, wichtiger noch, was der Clou ist, wie die eigentliche Botschaft des Bildes lautet.

Auf dem Bild wird ein historischer Moment festgehalten, der 9. November 1989. Heute wird dieser Tag als so bedeutend verstanden wie der Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648 oder der Sturm auf die Bastille 1789: ein Ereignis, an dem man einen Epochenübergang festmacht: vom Kalten Krieg zur unipolaren liberalen Weltordnung. Insofern handelt es sich um ein Historienbild ähnlich „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix, das an die französische Julirevolution von 1830 erinnert. Tylle zitiert es heiter und ironisch.

Es handelt sich bei Tylle sich um ein sogenanntes Historienbild im Stil des Realismus. Nun hat das, was wir auf dem Bild sehen, so nie stattgefunden. Die Szene ist eine Erfindung des Malers, so wie bei Delacroix. Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied: Bei Delacroix ist klar, dass es so nicht stattgefunden hat. Anders hier: Es sieht so aus, als hätte es genauso stattgefunden. Hat es aber nicht: Es handelt sich um eine Fiktion.

Es handelt sich nun um eine ganz bestimmte Form von Fiktion, nämlich eine Fiktion im Dienste der Wahrheit. Es ist eine Erfindung, wie sie Siegfried Lenz im Nachwort zu seinem Erzählband „So zärtlich war Suleyken“ beschreibt:

 „Suleyken, wie es hier vorkommt, hat es natürlich nie und nirgendwo gegeben; es ist eine Erfindung. Aber ist es von Wichtigkeit, ob dieses Dörfchen bestand oder nicht? Ist es nicht viel entscheidender, dass es möglich gewesen wäre? Gewiss, das ist zugegeben, wird in dieser Geschichte ein wenig übertrieben – aber immerhin, es wird methodisch übertrieben. Und zwar in der Weise, dass das besonders Einzigartige hervorgehoben und das besonders Charakteristische zum Vorschein kommt. Insofern steht das bewährte Mittel der Übertreibung ganz im Dienst der Wahrheitsfindung“,[1]

das allerdings nur der Kunst, nicht aber in der Wissenschaft erlaubt ist. Umso wichtiger erscheint es, im Prozess wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens die künstlerischen Methoden mit ihrem spezifischen Potential zu berücksichtigen.

Wir sehen hier ein Historienbild im Stil des Realismus, das eine Realität zeigt, die kein Foto abgebildet hat und wahrscheinlich nie so hätte abbilden können. Denn so viele Symbole können zufällig kaum zusammentreffen. Darin finden wir einen Maßstab der Beurteilung: Das Bild muss sich daran messen lassen, dass es irgendwie realer ist, als es ein Foto je hätte sein können.

Der Maler nimmt es mit der Wahrheit ganz genau: Die Autos, die Kleidung, die Landschaft, die Fabrik, der Playboy, der TUI-Katalog. So wurde die Autoschlange 1999 mit einem Trabi-Club in historischer Kleidung nachgestellt. Jedes Detail ist genau recherchiert, aber das Ganze, auf das es letztlich ankommt, ist Fiktion.

Was sehen wir? Tylle nutzt die mittelalterliche Form eines Triptychons, also eines dreigeteilten Gemäldes. Seine Dreigliederung erlaubt, unterschiedliche Aussagen zusammenzubringen. Die Mitte gilt dem 10. November 1989 auf einer Straße bei Deuna (Thüringen), rechts und links eine Situation aus der Nähe jenes Ortes zehn Jahre später.

In der Horizontalen sehen wir das Zementwerk und den Ort Deuna. Das Zementwerk bringt es auf einen Kilometer kompromisslose Industrieskyline. Da es so nah an der Mauer steht, darf man annehmen, dass es Zement für die Mauer produzierte. Insofern symbolisiert dieses Zementwerk die Teilung Deutschlands fast so gut wie ein Wachturm an der Grenze. Neben dem Werk schließt sich das Dorf Deuna mit seiner Kirche an, geduckt, so wie das soziale Leben in der DDR es wohl oft war. Davor sehen wir ein abgeerntetes Feld als Ausdruck der öden industriellen DDR-Landwirtschaft und einen kahlen Baum.

Es ist die Stimmung eines Herbsttages, ganz real, aber auch symbolisch: Etwas ist erschöpft und geht zu Ende. Dahinter rechts die bewaldeten Höhen des Dün, und darüber ganz viel Himmel. Das viele Licht, dem dunkle Wolken Platz machen müssen, zeigt, dass es nach dem Ende hoffnungsfroh weiter geht.

In der Vertikalen gibt es nur ein beherrschendes Motiv: der Metallgittermast. Warum nur ein einziges so herausgehobenes Objekt in dieser Dimension, wo doch der Maler in den beiden anderen Dimensionen wirklich nicht sparsam ist? Weil, so scheint mir, dieser Mast die zentrale Botschaft des Bildes auf den Punkt bringt. Man erinnert: Es ist ein Triptychon! Da liegt es doch auf der Hand, worum es geht.

Zuvor jedoch zur Horizontalen. Hier sieht man die Straße, auf der das eigentliche Ereignis stattfindet. Es ist kinderleicht zu erfassen. Es ist der Aufbruch vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger in den Westen, nachdem sie in der Nacht die Nachricht vom Mauerfall erreicht hat.

Auf dieser Straße wird es nun ganz symbolträchtig, und zwar auf eine heitere und freundlich ironische Art, die den deutschen Charakter und die deutsche Kunst im Allgemeinen nicht charakterisieren. Tylles heitere Ironie ist wahrhaftig und glaubwürdig, weil er in DDR-Zeiten mit Künstlern in der DDR zusammengearbeitet hat und einen ehrlichen Respekt vor den Leistungen der Menschen jenseits der Mauer bezeugt.

Der 9. November war ein Aufbruch. Und was sehen wir? DDR-Fahrzeuge im Stau. Der Aufbruch realisierte sich in einem epischen Stau. Die Leute sind ausgestiegen, und die Szene ist voller Symbole. Nehmen wir nur die junge Frau auf dem Dach des Trabis mit der Fahne.

In ihr wird ein wichtiger Aspekt der zentralen Botschaft des Bildes besonders deutlich vermittelt. Erinnern wir das ikonische Bild von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“: Eine junge Frau mit Fahne dominiert das Bild. Unerschrocken, mit Jakobinermütze und wehender Fahne steigt sie über tote Schergen des Regimes hinweg, am Kopf einer bewaffneten Bürgertruppe.

Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk (1830)[2]

Gegenüber diesem berühmten Bild wird eine große Botschaft deutlich: Hier, 1989, ist alles friedlich. Alle warten geduldig, und auch die Fahne bläht sich nur müde auf. Kein Wunder bei dem Loch, den Hammer und Zirkel gelassen haben.

Tylles Bild atmet Friedlichkeit. Es war eine echte Revolution, aber eben eine friedliche. Das gilt es zu erinnern, denn: Diese Friedlichkeit war ein Wunder! Wer hätte 1988 geglaubt, dass der Sowjetkommunismus friedlich aufgeben würde? Das Bild erzählt also von einem großen Wunder. Das bleibt zu deuten, wobei der Mast uns hilft. Dazu sogleich, zuvor noch ein volleres Verständnis von der Bedeutung des Ereignisses.

Vorne rechts sehen wir ein parkendes Auto, das bereits zurückkehrt, mit Bananen, Alditüte, TUI-Katalog, Playboy. Damit identifiziert Tylle die Insignien der Freiheit für viele Menschen: gutes Essen (Bananen), schöne Reisen (TUI), Informations- sowie Meinungsfreiheit und Libido (Playboy), günstiges Einkaufen von guten Waren (Aldi). Und: Freiheit von Angst.

Der Tag ist ein Aufbruch in die Freiheit, und das heißt zunächst einmal, dass ein angsteinflößendes Regime seine Autorität verloren hat. Hierzu finden sich besonders viele ironisch-heitere Symbole: das zerrissene Bild von Erich Honecker, vor dem sich ein kleiner Junge erleichtert, das zerfetzte Plakat vom 40. Jahrestag der DDR-Gründung, das niemanden interessiert, und vor allem: die „geschändete“ Fahne, deren öffentliches Schwenken als Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole verfolgt werden könnte (§ 90a StGB). Der Autoritätsverlust der DDR ist so total und die neue Freiheit fehlender Angst vor den Schergen des Regimes ist so vollendet, dass die anderen sich noch nicht einmal drum kümmern.

Der Aufbruch ist hoffnungsfroh. Wir empfinden unter den Menschen eine gute Stimmung. Das Licht bestätigt uns in dieser Empfindung: Es gibt noch graue Wolken, aber dahinter leuchtendes Licht.Was wurde draus? Das sehen wir rechts und links, die Szenen zehn Jahre später zeigen. Tylle hält sichere Distanz zu Apologeten jeder Couleur. Wir sehen keine blühenden Landschaften, aber auch keine BRD-Besatzungstruppen, die kaltherzig sozialistische Errungenschaften zerschlagen. Die Wahrheit kommt in leiseren Tönen. Rechts sehen wir einen Neuanfang.

Die Fassade renoviert und leuchtend in freundlichem Sonnenlicht. Ein neues Fenster, eine Satellitenschüssel, die kleine USA-Fahne, das Firmenschild deuten auf eine neue Selbständigkeit. Man sieht nicht viel, aber gewinnt den Eindruck, dass dort jemand lebt, der sich ein bescheidenes, aber sinnvolles und lichterfülltes Leben hat aufbauen können.

Links sieht es anders aus: ein unrenovierter Hinterhof, eine Immobilienfirma des Typus, mit dem viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, und der große Leninkopf. Der Autoritarismus ist abgeräumt, aber nicht weg, wie zahlreiche Studien zu den östlichen Bundesländern immer wieder bestätigen. Viele Dinge sind zu beobachten, weshalb das Werk so gut im Foyer des Instituts hängt: man findet immer wieder etwas Neues und kann darüber ein Gespräch anknüpfen, das leicht zu Forschungsfragen führt, die das Institut beschäftigen.

Das Bild ist voller Botschaften. Was bringt all diese Botschaften zusammen? Diese Frage führt uns zu dem Mast zurück. Erinnern wir uns an die Form: das Triptychon, also eine klassische Form der Darstellung religiöser Aussagen. Besser gesagt: christlicher Aussagen. Und eigentlich geht es auch nicht um „Aussagen“ im Plural, sondern um die eine zentrale Aussage des Christentums. In meiner Lesart nimmt das Bild in seiner Form und allen Details die Aussage auf und führt sie im Hauptbild zusammen in dem ikonischen christlichen Symbol.

Natürlich malt Tylle kein Kreuz. Aber er malt einen Mast, und zwar ziemlich genau da, wo bei einem mittelalterlichen Triptychon das Kreuz steht. Was kann nun das Kreuz symbolisieren?

Es ist das Versprechen der Erlösung!

Der 9. November war vieles, aber er war vor allem für viele Menschen ein Tag der Erlösung, der Erlösung von einem Regime, das seine Bürgerinnen und Bürger am Weglaufen hindern musste. Wer war aber da der Erlöser? Oder: Was hat die Menschen erlöst? Tylle zeigt es uns nicht. Es oder er oder sie sind über dem Bild.

Vieles kommt in Betracht: Ronald Reagan, der den Sowjetkommunismus totgerüstet hat, Michail Gorbatschow, der den friedlichen Kollaps des Sowjetkommunismus erlaubt hat, der westliche liberale Kapitalismus, der dem Sowjetkommunismus in jeder Hinsicht überlegen war und ihm damit alle Legitimation entzogen hat, das normative Programm des freiheitlichen Westen aus Grundgesetz,  Europäischen Verträgen,  Europäischer Menschenrechtskonvention bis zur UN-Charta, also der Forschungsgegenstand des Instituts, der Mut der Menschen der DDR, und die Umsicht, in der sie ihre Revolution gestaltet haben, oder vielleicht doch: die Gnade Gottes?

Nun mögen manche einwenden: Jetzt übertreibt er. In der Tat: In den Ohren vieler mag diese religiöse Dimension als absurd erscheinen. Aber man vergesse nicht: Jeden Sonntag lesen Tausende von Menschen in den Kirchen Fürbitten, und vor 1989 in vielen Kirchen in Ost und West mit der Anrufung, dass die Konfrontation zwischen Ost und West, die das Leben auf dem Planeten auszulöschen drohte, überwunden werde. Solche Fürbitten enden stets in dem Anruf: „Herr, unser Gott, wir bitten dich, erhöre uns“. Alles Spinner? Sogar die Linke sagt: Die friedliche Revolution war ein Geschenk des Himmels.

H. D. Tylle hat nicht verraten, was der obere Teil des Mastes jenseits der Bildgrenze trägt. Denn dann würde er seinem Bild die ultimative Botschaft nehmen, mit dem ich die Deutung des Bildes nun abschließen werde.

Was können wir als die ultimative Botschaft des Mastes nehmen, dessen Spitze wir nicht sehen können? Dank dieser Gestaltung kann jeder seinen Erlöserglauben in das Bild hineinprojektieren und oben am Mast jenseits des Bildrandes verankern. Wie jedes weltgeschichtliche Ereignis speist die deutsche Einheit viele Deutungen und Erzählungen. Aber jeder, der etwas Phantasie hat, wird verstehen, dass der Mast auch einen anderen Erlöserglauben symbolisieren kann. Und wird verstehen, dass es kein Mittel gibt herauszubekommen, wer Recht hat. Und dieser Selbstzweifel und die Einsicht in die Berechtigung abweichender Meinungen ist die stärkste Grundlage der Freiheit, wie wir sie verstehen. Und deshalb ist für mich der eigentliche Clou dieses Realismus, dass er das Wichtigste verbirgt.

Der Mauerfall liegt inzwischen mehr als eine Generation zurück. Wie kann Tylles Bild die weitere Forschung des Instituts inspirieren, allgemeiner: Wie kann man die Lehren der zwei verlorenen Kriege in eine ungewisse Zukunft verdauern? Wo soll es hingehen? Die Losung des Bildes ist zurückhaltend, aber eindeutig: nach Westen. Bei allen Gefahren in den USA und auch in Frankreich bleibt der Westen doch symbolisch sicher mit der Idee der freiheitlichen Demokratie. Und was ist dabei besonders wichtig? Das führt uns zu der Hauptaussage des Bildes zurück: der stete Zweifel an den eigenen Ergebnissen und die Einsicht, dass die bisweilen so ärgerlichen Ideen der anderen einen berechtigten, ja unerlässlichen Platz haben könnten.

[1] Siegfried Lenz, So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten, Frankfurt am Main: Fischer 1976, 118.

[2] Bild: gemeinfrei.

***

Bildausschnitte des Gemäldes: ©Maurice Weiss/Ostkreuz

Der Beitrag basiert auf einer Ansprache, gehalten am 14. Februar 2020.

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Armin von Bogdandy ist Direktor am MPIL. Armin von Bogdandy is Director at the MPIL.

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